Der Chiropraktiker beschränkt sich auf die Behandlung von Erkrankungen des Bewegungsapparates(21.7.2023) Eine sektorale Heilpraktikererlaubnis kann nur erteilt werden, wenn das Teilgebiet, für das die (beschränkte) sektorale Erlaubnis beantragt wird, hinreichend ausdifferenziert und abgrenzbar ist von anderen medizinischen Bereichen. Die Chiropraktik ist hinreichend ausdifferenziert und abgrenzbar. Daher muss die zuständige Gesundheitsbehörde einem Antragsteller eine auf den Bereich der Chiropraktik beschränkte - sektorale - Heilpraktikererlaubnis erteilen, wenn er sich erfolgreich einer eingeschränkten Kenntnisüberprüfung unterzieht (Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Urteil vom 14. Juni 2023 – 9 S 1836/21). 

Dies begründet der Verwaltungsgerichtshof wie folgt:

  • die Abgrenzbarkeit ist gegeben, weil Chiropraktik sich konzentriere auf Erkrankungen des Bewegungsapparates (im Gegensatz zur Ostheopathie, die ein weites und unbestimmtes Anwendungsfeld zeigt)
  • im Ausland sei die Chiropraktik anerkannt, insbesondere bestehen in der EU 23 nationale Berufsverbände der Chiropraktiker
  • in Deutschland bestehe mit dem Angebot der DIU (Desden) ein zertifizierter Studiengang mit eigenen Lehr- und Ausbildungsstandards
  • es bestünden auch ausreichende rechtliche Vorgaben für die Tätigkeit des Chiropraktikers

Im Einzelnen führt der Verwaltungsgerichtshof dazu aus: 

Die Tätigkeit eines Chiropraktors lässt sich von anderen Tätigkeitsbereichen durch den betreffenden Sachkundigen jedenfalls insoweit abgrenzen, denn sie konzentriert sich auf Krankheitsbilder/Symptome im Bereich des Bewegungsapparats mit Bezug zu den Gelenken, insbesondere zu den Gelenken der Wirbelsäule, sowie im Bereich von Einflüssen des peripheren somatischen und vegetativen Nervensystems; sie zielt darauf ab, Gelenkblockaden durch manuelle Behandlungsmethoden mittels Krafteinwirkung (z.B. Force und Low-Force-Techniken) aufzuheben und die Beweglichkeit von Gelenken (wieder-)herzustellen (Stellungnahmen der DIU gegenüber dem Senat vom 10.11.2022, Ziffer 2, und vom 06.02.2023, Ziffer 1: „Wirbelsäule, die Wirbelkörper und die Gelenke stehen im Focus“). Dahingegen sind die Tätigkeitsmerkmale der manuellen Therapie als bewegungstherapeutische Ausprägung der Physiotherapie die Behandlung von Gelenkblockierungen und ihrer muskulären, reflektorischen Fixierung durch gezielte impulslose Mobilisation oder durch Anwendung von Weichteiltechniken (Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Verordnung von Heilmitteln in der vertragsärztlichen Versorgung vom 01.07.2011 (BAnz Nr. 96, S. 2247), zuletzt geändert am 19.01.2023 mit Wirkung zum 12.04.2023 (BAnz AT 11.04.2023 B1) - HeilM-RL -, § 19 Abs. 3 Nr. 7; vgl. auch schon Senatsurteil vom 25.07.1997, a.a.O., Rn. 19; vgl. auch den Hinweis in der Stellungnahme der DIU gegenüber dem Senat vom 06.02.2023, Ziffer 1: „keine Manipulation - anderes „Technikspektrum“). Der Umstand, dass sich auch die Orthopädie als Fachgebiet der Medizin mit der „Entstehung, Erkennung, Verhütung und Behandlung angeborener oder erworbener Störungen und Anomalien in Form oder Funktion des Stütz- und Bewegungsapparats befasst“ (Pschyrembel Online, https://www.pschyrembel.de/Orthop%C3%A4die/K0FU9/doc/, zuletzt eingesehen am 14.06.2023) und damit ebenfalls Gelenke und Wirbel sowie deren Funktionsbeeinträchtigung in den Blick nimmt, stellt sich dies - mit Blick auf den aufgezeigten spezifischen Gegenstand und die spezifischen Methoden der chiropraktischen Tätigkeit - als für die hinreichende Abgrenzbarkeit unschädliche Überschneidung dar.

Für eine hinreichende Abgrenzbarkeit und Ausdifferenzierung der Chiropraktik spricht auch der Vergleich mit der Osteopathie, die in der Rechtsprechung als nicht hinreichend abgrenzbares Tätigkeitsgebiet angesehen worden ist (BVerwG, Urteil vom 10.10.2019 - 3 C 17.17 -; VG Stuttgart, Urteil vom 26.01.2017 - 4 K 5923/15 -; VG München, Urteil vom 19.01.2023 - M 27 K 20.6017 -, jeweils juris). Nach einer von der Bundesärztekammer herausgegebenen Ausarbeitung („Wissenschaftliche Bewertung osteopathischer Verfahren“, Deutsches Ärzteblatt 2009, S. A 2325) fehlt Begrifflichkeiten wie „Osteopathie“, „osteopathische Medizin“, „osteopathische Behandlung“ eine klare, weltweit akzeptierte Definition. Eine inhaltlich-konzeptionelle Differenzierung der Begriffe „Osteopathie“ und manuelle Medizin ist bisher nicht ohne weiteres möglich. Ihren grundsätzlichen Zielstrukturen entsprechend wird die „Osteopathie“ typischerweise in drei Bereiche unterteilt: parietale „Osteopathie“ (Bindegewebe, Muskulatur), viszerale „Osteopathie“ (innere Organe und ihre bindegewebigen Aufhängungen), kraniale (kraniosakrale) „Osteopathie“ (basierend auf der Annahme spezifischer inhärenter Rhythmen des menschlichen Organismus; zum Ganzen Deutsches Ärzteblatt 2009, S. A 2325). Im Vergleich zu dem danach tendenziell weiten und wenig bestimmten Anwendungsfeld der Osteopathie sind Gegenstand, Ziel und Behandlungsmethoden der Chiropraktik deutlich klarer und enger umrissen, als dies bei der Osteopathie der Fall ist, und besteht darüber im Kern national wie international ein breiter Konsens.

Im Ausland ist die Anerkennung eines chiropraktischen Berufsbildes weit verbreitet und zahlreiche Staaten haben hierzu entsprechende gesetzliche Bestimmungen getroffen. Neben dem außereuropäischen angelsächsischen Raum wie etwa den Vereinigten Staaten von Amerika und Kanada, aus dem die Chiropraktik stammt, sowie dem Vereinigten Königreich sind auch in der Mehrzahl der Mitgliedstaaten der Europäischen Union (z.B. Dänemark, Finnland, Malta, Zypern) sowie in Staaten des Europäischen Wirtschaftsraums (z.B. Island, Liechtenstein, Norwegen) und der Europäischen Freihandelszone (z.B. der Schweizerischen Eidgenossenschaft), die Ausbildung beziehungsweise die Berufsausübung der Chiropraktik gesetzlich geregelt (vgl. VG Frankfurt, Urteil vom 27.05.2014 - 4 K 2714/12.F -, juris Rn. 27). Auf europäischer Ebene sind beispielsweise die „European Chiropractor's Union“ mit 23 nationalen Berufsverbänden für die Interessenvertretung und der „European Council of Chiropractic Education“ für die Standardisierung tätig.

Mit Blick auf die vom Kläger angestrebte selbständige Tätigkeit als - akademisch ausgebildeter - Chiropraktor in der Primärversorgung kommt großes Gewicht im Übrigen dem Umstand zu, dass es seit dem Jahr 2011 an der - bereits unter aa)(2)(a) angesprochenen - DIU (Dresden) im Bundesgebiet auch einen eigenen zertifizierten Bachelor- und Master-Studiengang der Chiropraktik an einer staatlich anerkannten privaten Hochschule gibt. Der Bachelor-Studiengang umfasst fünfzehn Module, namentlich Grundlagen der Gastroenterologie, der Nephrologie und des Urogenitaltraktes, Grundlagen der Labormedizin und der Mikrobiologie, Grundlagen des Herz- und Kreislaufsystems sowie der Pulmonologie und des Notfallmanagements, Grundlagen der Orthopädie (muskolskeletal), Grundlagen der Geschichte und Philosophie in Medizin und Chiropraktik, Grundlagen der Neurologie und Endokrinologie, Grundlagen des wissenschaftlichen Arbeitens, Behandlungstechniken Non Force, Low Force und Force System, Einführung in die Kommunikationspsychologie, Grundlagen der fachspezifischen Gesetzeskunde, bildgebende Verfahren: Anwendungsmöglichkeiten und Auswertung, Grundlagen Statistik und Public Health, Behandlungstechniken – System der Sacro Occipital Techniken, Einführung in die Kommunikation sowie Evidenzbasierte Medizin. Der Master-Studiengang umfasst die Module Praxis und Qualitätsmanagement, Chiropraktik und Kieferorthopädie, Epidemiologische Grundlagen und Public Health, Chiropraktik bei Kindern und Schwangeren beziehungsweise besonderen Patientengruppen sowie ein Ambulatorium. Der Bachelor-Studiengang umfasst mit 240 ECTS-Punkten einen Workload von 7.200 Stunden, der Master-Studiengang umfasst mit 60 ECTS-Punkten einen Workload von 1.800 Stunden. Die Curricula sprechen jeweils für die wissenschaftliche Basis der Wissensvermittlung und der Erkenntnisse über die Anwendung und Wirksamkeit der Chiropraktik. Die Bachelor- und Masterstudiengänge Chiropraktik der DIU sind durch die Zentrale Evaluations- und Akkreditierungsagentur Hannover (ZEvA) zertifiziert worden. Nach den Angaben der DIU entsprechen die Bachelor- und Masterstudiengänge Chiropraktik den Mindestanforderungen der Kategorie I der WHO-Richtlinien (ZEvA, Akkreditierungsbericht zum Akkreditierungsantrag der Dresden International University, S. II-12; Stellungnahme der DIU vom 05.01.2018 gegenüber dem VG München im Verfahren M 27 K 17.693), wenngleich ihre Ausgestaltung nicht in unmittelbarer Umsetzung der Vorgaben der WHO-Richtlinien erfolgt ist, sondern sich an nationalen Richtlinien in Bezug auf eine Akkreditierung durch den Akkreditierungsrat ausgerichtet hat (Stellungnahme der DIU gegenüber dem Senat vom 10.11.2022, Ziffer 4). Die DIU arbeitet zudem mit der European Chiropractic Academy (ehemals Chiropraktik Akademie Bad Oeynhausen) zusammen (siehe bereits oben unter bb)(1)). In ihrer Stellungnahme vom 10.11.2022 (Nr. 7) führt sie hierzu aus: „Mit der Einbindung des Kooperationspartners greifen wir als DIU (Tochtergesellschaft der TU-Dresden) auf die vorhandene Expertise im Bereich der eher jungen Wissenschaftsdisziplin „Chiropraktik“ zurück, haben gemeinsam mit der Fachlichen Leitung der Akademie (gleichzeitig Mitglied im BDC Bund deutscher Chiropraktiker) sowie erfahrenen Professor*innen, Wiss. Mitarbeiter*innen der Medizin die Inhalte der Studiengänge entwickelt, weiterentwickelt und unterziehen diese einem ständigen Qualitätssicherungsprozess u.a. im Sinne der Anforderungen des Akkreditierungsrates.“

Diese und die weiteren dem Senat zu den beiden Ausbildungseinrichtungen vorliegenden Informationen (zu den dort zugrunde gelegten Definitionen der Chiropraktik und den Behandlungstechniken vgl. bereits oben unter bb)(1)) legen den Schluss nahe, dass die Ausbildungstätigkeit sowohl der DIU wie auch der European Chiropractic Academy zur Entwicklung eigener nationaler Lehr- und Prüfungsstandards geführt hat, denen auch maßgebliche Bedeutung für die Herausbildung eines hinreichend abgrenzbaren chiropraktischen Tätigkeitsbereichs auf akademischem Niveau in Deutschland zukommt.

Schließlich bestehen für das Tätigkeitsgebiet des Chiropraktors in ausreichendem Umfang Vorgaben, mit denen sichergestellt werden soll, dass der Antragsteller die Grenzen seines Könnens kennt und beachtet (BVerwG, Urteil vom 10.10.2019 - 3 C 8.17 -, juris Rn. 22).

Praxisanmerkung:

In der Verwaltungspraxis wird die Chiropraktik nach wie vor skeptisch gesehen was häufig zu ablehnenden Entscheidungen über Anträge auf Erteilung einer sektoralen Heilpraktikererlaubnis für den Bereich Chiropraktik führt. Die vorliegende, gut begründete Entscheidung verdeutlicht aber, dass es sich durchaus lohnt, den Rechtsweg zu beschreiten und notfalls auf Erteilung der Erlaubnis zu klagen. 

Dass sich auch derjenige noch einer behördlichen Kenntnisprüfung unterziehen muss, der zuvor den Studiengang an der DIU Dresden abgeschlossen hat, verwundert. Dies mag dem Umstand geschuldet sein, dass es noch keinen staatlich anerkannten Abschluss in Chiropraktik gibt. Allerdings soll die behördliche sektorale Kenntnisprüfung nicht sonderlich schwer sein. 

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht Philip Christmann
Vertretung und Beratung im Medizinrecht und Arztrecht
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