Was ist hier die richtige ICD?(5.3.2024) Im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung darf der Arzt seine (unvollständige oder ungenaue) Abrechnungsdiagnose ergänzen und korrigieren durch Vorlegen der Behandlungsdokumentation. Hat er zuerst eine (falsche) Abrechnungsdiagnose gestellt (hier: u.a. Enzephalitis), so verbietet ihm dies nicht, in der Wirtschaftlichkeitsprüfung "nachzulegen" und mittels Vorlage seiner Behandlungsdokumentation nachzuweisen, dass er ein Medikament (hier Tecfidera) ordnungsgemäß und mit gutem Grund verordnet hat (hier: zur Behandlung von Multipler Sklerose) (Sozialgericht Marburg, Urteil vom 14.2.2024 – S 18 KA 96/23). 

Der Fall:

Der Kläger ist als Facharzt für Neurologie und Psychiatrie in eigener Praxis tätig und behandelte den Patienten K mit Tecfidera (Fumarsäuredimethylester). Im Quartal I/2018 entstanden dafür Kosten von 4.697,06 €. Bei der Abrechnung codierte der Kläger: Periphere Fazialisparese rechts vom idiopathischen Typ (G51.0G), Augenbewegungsstörung (H51.8G), Koordinationsstörung links (R27.8G), Hypertonie (I10.90G) und Encephalomyelitis disseminata (G35.9).

Tecferida ist allerdings (nur) für die Behandlung Multipler Sklerose zugelassen. 

Die Prüfungsstelle monierte daher die Verordnung von Tecferida.

Der Kläger legte der Prüfungsstelle die Behandlungsdokumentation des betreffenden Patienten vor. Aus der Behandlungsdokumentation ergab sich die Diagnose einer Multiplen Sklerose. 

Die Prüfungsstelle setzte eine schriftliche Beratung des Klägers fest in der sie ihn dahin beriet, wie er dies von Anfang an richtig per ICD-Code zu kodieren habe und wies ihn auf die richtige Erfüllung der Dokumentationspflichten hin. 

Der Kläger legte gegen diesen Bescheid Widerspruch ein. Er wies darauf hin, dass sich weder aus dem Bundesmantelvertrag für Ärzte noch aus der Arzneimittelrichtlinie oder aus der Berufsordnung die von der Prüfungsstelle geforderte Begründungstiefe für die geforderten ICD-Codes ergeben würde. Notwendig sei alleine, dass der Arzt die Behandlungsmaßnahmen ausreichend dokumentiere, was er hier getan hätte. Die Prüfungsstelle gebe in dem Bescheid keine Rechtsgrundlage an, wonach er in der von ihr geforderten Begründungstiefe die ICD-Codes angeben müsse. Es fehle schlicht eine Ermächtigungsgrundlage für den belastenden Bescheid, der deshalb aufzuheben sei.

Dies sah der Beklagte als Widerspruchsstelle anders. Der Beklagte wies deshalb den Widerspruch des Klägers als unbegründet zurück.

Der Kläger zog vor das Sozialgericht Marburg und beantragte, den Bescheid der schriftlichen Beratung aufzuheben. 

Die Entscheidung:

Das Sozialgericht Marburg gab der Klage statt und hob den Beschluss, in dem die Beratung erfolgte, auf. 

Bundesmantelvertrag für Ärzte, Arzneimittelrichtlinie und der Berufsordnung lasse sich zwar entnehmen, dass der Vertragsarzt seine Therapieentscheidung zu dokumentieren hat. Den Vorschriften lasse sich aber nicht entnehmen ein Vorrang der kodierten Diagnosen dergestalt, dass eine Ungenauigkeit oder ein Fehler an dieser Stelle nicht über die restliche Behandlungsdokumentation ausgeglichen bzw. korrigiert werden kann. Durch die vom Arzt angegebenen Abrechnungsdiagnosen trete keine Verwirkung (Präklusion) des weiteren Tatsachenvortrages ein. Der Arzt könne also zum Beleg der Diagnose auch noch seine Behandlungsdokumentation vorlegen. 

Denn für die Wirtschaftlichkeitsprüfung seien sämtliche – vom Kläger im Verwaltungsverfahren vorgelegten – Behandlungsunterlagen heranzuziehen und zu untersuchen. Erst wenn sich in der Gesamtschau der vorgelegten Unterlagen eine unwirtschaftliche Verordnung ergebe, sei der Beklagte berechtigt einen Regress oder wie hier eine schriftliche Beratung festzusetzen. Eine Trennung wie sie der Beklagte vornimmt zwischen Praxisdokumentation und Dokumentation gegenüber der Krankenkasse und der Kassenärztlichen Vereinigung, ergebe sich nicht aus den gesetzlichen Vorschriften.

Vorliegend lasse sich den vorgelegten Behandlungsunterlagen entnehmen, dass der Kläger Tecfidera innerhalb der Zulassung verschrieben hat. Dem stehen die von ihm angegebenen Diagnosen in den Behandlungsscheinen nicht entgegen. Zwar lasse sich der Codierung nicht die Diagnose der schubförmig remittierenden Multiplen Sklerose entnehmen. Die stattdessen codierte Enzephalitis, Myelitis und Enzephalomyelitis, nicht näher bezeichnet (G04.9) sei letztendlich aber der Oberbegriff der Multiplen Sklerose, die eine spezielle Form der Enzephalomyelitis darstellt. Ein Widerspruch zwischen den codierten Diagnosen und der Behandlungsdokumentation, die eindeutig eine Behandlung der schubförmig remittierenden Multiplen Sklerose belegt, liege hier im Ergebnis nicht vor.

Da die Verordnung von Tecferida also wirtschaftlich war, war die schriftliche Beratung des Klägers (als belastende Maßnahme) unzulässig. Der streitgegenständliche Bescheid zur Beratung war daher aufzuheben.

Praxisanmerkung:

Vor einem Regress wegen der unrechtmäßigen Verordnung von Medikamenten muss der Arzt beraten werden. Daher ist die Beratung ein Tadel, der den späteren Regress erst ermöglicht. Ist eine Beratung zu Unrecht erfolgt, muss diese also "gelöscht" und aus der Akte des Arztes getilgt werden (vergleichbar einer Abmahnung eines angestellten Arztes vor einer verhaltensbedingten Kündigung durch die Klinik). Deshalb hat der Arzt sich hier gegen die erfolgte schriftliche Beratung gewehrt.

Die Entscheidung, die sich an der bisherigen Linie des Sozialgerichts Marburg orientiert, ermöglicht es dem Vertragarzt, eine an sich falsch bzw. unvollständig codierte Leistung später noch richtig zu stellen durch Vorlage der Behandlungsdokumentation. Aus Sicht der Vertragsärzte ist dies zu begrüßen. Denn insbesondere bei Erkrankungen, deren Befundbild komplex ist, kann der Arzt oftmals nicht sogleich "den Punkt treffen" und also unmittelbar die richtige Diagnose treffen, vielmehr tastet er sich von Verdachtsdiagnose zu Diagnose voran, bis er weiss, womit er es zu tun hat. Die vorliegende Entscheidung respektiert diesen Erkenntnisweg. 

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht Philip Christmann
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