Der BGH senkt die Anforderungen an die Darlegungslast der Patienten für Arzneimittelschäden ab (BGH, Urteil vom 01.07.2008 - VI ZR 287/07 -).

Der Tatbestand:

1. Die Klägerin nimmt die Beklagte, die in Deutschland das Schmerzmittel VIOXX vertrieb, das sie im Jahr 2004 nach dem Bekanntwerden möglicher erheblicher Gesundheitsrisiken freiwillig vom Markt nahm, unter dem Gesichtspunkt der Arzneimittelhaftung auf Ersatz materiellen und immateriellen Schadens, hilfsweise auf Auskunft über bekannte Wirkungen, Nebenwirkungen und Wechselwirkungen in Anspruch. Die Klägerin hatte dazu u.a. folgendes vorgetragen: Im Rahmen der Behandlung einer rheumatischen Erkrankung sei ihr das Arzneimittel Vioxx in Tablettenform durchgehend vom 17.02.2000 bis September 2004 verschrieben worden. Sie habe regelmäßig pro Tag 25 mg des Medikaments eingenommen. Im Mai 2000 und September 2003 sei die Dosierung kurzfristig verdoppelt worden. Im August 2004 sei sie wegen einer Herzerkrankung stationär behandelt worden. Als Beweis bot die Klägerin das Zeugnis ihrer Fachärztin für Innere Medizin und Rheumatologie sowie die Beiziehung ihrer Behandlungsunterlagen an.Das Landgericht, dessen Urteil in NJW 2007, 3582 veröffentlicht ist, hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin hatte keinen Erfolg. Das Berufungsgericht hat die Revision nicht zugelassen. Dagegen wendet sich die Klägerin mit der Nichtzulassungsbeschwerde. Sie möchte ihr Begehren mit der Revision in vollem Umfang weiterverfolgen.

Die Entscheidungsgründe:

2. Die Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 7 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Die angefochtene Entscheidung verletzt den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG . Mit Erfolg macht die Nichtzulassungsbeschwerde geltend, das Berufungsgericht habe verfahrensfehlerhaft angenommen, dass die Klägerin ihrer Darlegungslast zu den Voraussetzungen einer Haftung der Beklagten nach § 84 AMG nicht in ausreichendem Maße nachgekommen sei.

a) Nach § 84 Abs. 2 Satz 1 AMG besteht die Vermutung, dass der Schaden durch das Arzneimittel verursacht worden ist, wenn das angewendete Arzneimittel nach den Gegebenheiten des Einzelfalls geeignet ist, den Schaden zu verursachen. Die Eignung im Einzelfall beurteilt sich gemäß § 84 Abs. 2 Satz 2 AMG nach der Zusammensetzung und der Dosierung des angewendeten Arzneimittels, nach der Art und Dauer seiner bestimmungsgemäßen Anwendung, nach dem zeitlichen Schadensbild und dem gesundheitlichen Zustand des Geschädigten im Zeitpunkt der Anwendung sowie allen sonstigen Gegebenheiten, die im Einzelfall für oder gegen die Schadensverursachung sprechen. Die Klägerin hat dazu vorgetragen, im Rahmen der Behandlung der rheumatischen Erkrankung, die sich zunehmend verschlechtert habe, sei ihr das Arzneimittel VIOXX 25 mg in Tablettenform verschrieben worden, und zwar durchgehend vom 17. Februar 2000 bis September 2004. Die Dosierung sei in einem Umfang von 25 mg pro Tag erfolgt, wobei im Mai 2000 und September 2003 die Dosierung kurzfristig auf 2 x 25 mg pro Tag erhöht worden sei. Diesen Vortrag hat sie unter Beweis gestellt durch das Zeugnis der Fachärztin für Innere Medizin und Rheumatologie K.-S.. Weiter hat sie vorgetragen, dass sich am 16. August 2004 bei ihr akute Anzeichen einer Tachyarhythmia absoluta mit den Zeichen einer kardialen Dekompensation eingestellt hätten. Sie sei von ihrer Hausärztin umgehend in das H. Klinikum überwiesen worden, wo sie noch am selben Tag stationär aufgenommen worden und bis zum 25. September 2004 verblieben sei. Diesen Vortrag hat sie unter Beweis gestellt durch die beantragte Beiziehung der Behandlungsunterlagen von Frau Dr. K.S. Dieser Vortrag war entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ausreichend, denn an die Darlegungslast des Patienten dürfen, um ein weitgehendes Leerlaufen der Vorschriften über die Haftung für Arzneimittelschäden zu vermeiden, keine überhöhten Anforderungen gestellt werden (Senatsurteil vom 19. März 1991 - VI ZR 248/90 - VersR 1991, 780 zu § 84 AMG a.F.; vgl. auch Deutsch, NJW 2007, 3586 f. sowie Spickhoff, NJW 2008, 1636, 1639). Zumindest hätte das Berufungsgericht, was die Nichtzulassungsbeschwerde ebenfalls rügt, dem Antrag auf Beiziehung der Krankenunterlagen stattgeben müssen. Ein solcher Antrag stellt grundsätzlich keinen unzulässigen Beweisermittlungsantrag dar (vgl. Senatsurteil vom 14. Februar 1989 - VI ZR 65/88 - juris, Rn. 14, insoweit in BGHZ 106, 391 und VersR 1989, 514 nicht abgedruckt).

b) Die Nichtzulassungsbeschwerde wendet sich auch mit Erfolg dagegen, dass das Berufungsgericht gemeint hat, ein Schmerzensgeldanspruch scheitere auch an vermeintlich unzureichenden Darlegungen der Klägerin zur Frage der Vertretbarkeit (§ 84 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AMG) der durch die Einnahme von VIOXX ausgelösten schädlichen (Neben-)Wirkungen. Das Berufungsgericht hat nicht berücksichtigt, dass die Klägerin mit Schriftsatz vom 16. Oktober 2006 unter Vorlage eines Ausschnitts einer im Deutschen Ärzteblatt vom 13. September 2006 erschienenen Veröffentlichung („Neue kardiovaskuläre Bedenken bei konventionellen NSIAD - durch VIOXX auch Nierenschäden und Arrythmie - Wie sicher ist Arcoxia?”) vorgetragen und durch Sachverständigengutachten unter Beweis gestellt hat, dass nach einer weiteren Meta-Analyse das Risiko, einen Herzanfall oder Schlaganfall zu erleiden, bereits im ersten Monat der Einnahme von VIOXX steige. In dem Artikel heißt es u.a.: „Ein weiteres potenzielles Risiko von COX-2-Inhibitoren sind Herzrhythmusstörungen. Sie traten unter Rofecoxib fast dreimal häufiger auf (RR 2,90).” Damit hat die Klägerin entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts auch auf Herzrhythmusstörungen, die bei ihr konkret eingetreten sind, als mögliche Nebenwirkungen von VIOXX hingewiesen. Die Beurteilung, ob die Einnahme des Medikaments gleichwohl vertretbar war oder nicht, hätte das Berufungsgericht, wie die Nichtzulassungsbeschwerde mit Recht geltend macht, nicht ohne sachverständige Beratung vornehmen dürfen, zumal die Klägerin dazu ausdrücklich die Einholung eines Sachverständigengutachtens beantragt hatte.
Eigene Sachkunde hat das Berufungsgericht nicht dargelegt. Auch dieser Verfahrensfehler verletzt die Klägerin in ihrem Anspruch auf rechtliches Gehör.

3. Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Berufungsgericht bei der gebotenen Klärung zu einer anderen Beurteilung des Falles gekommen wäre, war das Urteil aufzuheben und die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

Praxishinweis:
Der durch ein Arzneimittel geschädigte Patient hat den Vorteil, dass ihm mit § 84 Abs. 2 Satz 1 AMG eine gesetzliche Vermutung zur Seite steht; das Gesetz geht davon aus, dass der Schaden durch das Arzneimittel verursacht worden ist, wenn das angewendete Arzneimittel nach den Gegebenheiten des Einzelfalls geeignet ist, den Schaden zu verursachen. Wenn der Patient nun - z.B. gestützt auf ärztliche Fachartikel - noch konkrete Anhaltspunkte dafür vorträgt, dass das Medikament geeignet ist, den Schaden hervorzurufen, muss die Beklagte die gesetzliche Vermutung aktiv widerlegen. Der BGH stellt noch einmal klar, dass dem Patienten keine weitere Darlegungspflichten auferlegt werden dürfen. Damit trägt es dem Umstand Rechnung, dass ein Patient mangels Fach- und Sachkunde keinen Einblick in die medizinischen Vorgänge hat und daher nur mit Schwierigkeiten detailliert zu der Schadensentwicklung etwas sagen kann.

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht Philip Christmann
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