(19.9.2017) Praxisgemeinschaften bieten Ärzten die Möglichkeit, Kosten zu teilen, ohne Nachteile bei der Honorarverteilung in Kauf nehmen zu müssen, die bei einer Gemeinschaftspraxis entstehen. Immer wieder kommt es aber zu Fällen der missbräuchliche Nutzung der Kooperationsform der Praxisgemeinschaft, d.h. Ärzte betreiben de facto einen Gemeinschaftspraxis, stellen sich nach außen hin aber als bloße Praxisgemeinschaft dar. Im vorliegenden Fall wurde den Ärzten einer Praxisgemeinschaft ein bestimmtes, in manchen Praxen alltägliches Verhalten zum Verhängnis und sie mussten in erheblichem Umfang Honorar nachzahlen, wie das Sozialgericht Marburg nun bestätigte (SG Marburg, Gerichtsbescheid vom 10.8.2017 - S 12 KA 136/17 WA). 

HNO-ModellDer Fall:

Zwei Fachärzte für HNO betreiben eine Praxisgemeinschaft. Für die Quartale IV/10 und I/11 ermittelte die KV aufgrund von patientenbezogenen Plausibilitätsprüfungen der Honorarabrechnungen mit Hilfe eines Praxisabgleichs, dass der Anteil gemeinsamer Patienten 25,95 % und 27,43 % betrug. Daraufhin stellte die KV Honorarrückforderungen in Höhe von rund 13.000 EUR nach § 106a  III Nr. 2 SGB V. Dagegen klagten die Ärzte. Der Anteil gemeinsam behandelter Patienten liege unter der Grenze von 20%.  

Die Entscheidung:

Das Sozialgericht wies die Klage der Ärzte gegen den Bescheid zur Honorarrückforderung als unbegründet ab. Der Bescheid ist wirksam.

Ganz maßgeblich stellte das SG darauf ab, dass hier in erheblichem Umfang Karten der Versicherten vorab eingelesen wurden (sog. Vorabeinlesung). Ein Einlesen und Speichern der Daten der Krankenversichertenkarte vor Erbringung einer Leistung im Rahmen einer Praxisgemeinschaft ist, wenn es nicht nur in ganz vereinzelten Fällen vorkommt, aus Sicht des Gerichts ein deutliches und kaum zu widerlegendes Indiz für das Vorliegen einer tatsächlichen Berufsausübungsgemeinschaft (Gemeinschaftspraxis). Es kann dabei offenbleiben, ob es ausreicht, dass die Kassenärztliche Vereinigung in ihre Ermessenserwägungen bei einer Honorarberichtigung im Rahmen einer patientenbezogenen Plausibilitätsprüfung die Größenordnung der gegenseitigen Vertretung von unter 10% im Fachgruppendurchschnitt in Hessen einstellt und dieser Wert mit der Kürzung nicht unterschritten wird. Jedenfalls dann, wenn wie hier Vertretungen bei stundenweiser Abwesenheit des Gemeinschaftspraxispartners und insbesondere in größerem Umfang Vorabeinlesungen erfolgt sind, kann ein Schätzungsermessen auch unter die Grenze von 20 % gemeinsamer Fälle ausgeübt werden.

Praxisanmerkung:

Ärzte in Praxisgemeinschaften mit anderen Ärzten sollten Vorabeinlesungen vermeiden. Sie deuten auf einen Mßibrauch der Gestaltungsform der Praxisgemeinschaft hin, verscheiben die Grenze der gemeinsam behandelbaren Patienten in der Praxisgemeinschaft nach unten und können u.a. zu erheblichen Honorarrückforderungen führen. 

Grundsätzlich gilt:

Eine missbräuchliche Nutzung der Kooperationsform der Praxisgemeinschaft liegt vor, wenn Ärzte oder Zahnärzte ihre Zusammenarbeit im Innen- und Außenverhältnis so gestalten, wie dies für eine Gemeinschaftspraxis (heute: Berufsausübungsgemeinschaft) typisch ist. Ein hoher gemeinsamer Patientenanteil spricht stets dafür, dass die Rechtsform der Praxisgemeinschaft im Praxisalltag nicht transparent realisiert wurde, sondern tatsächlich die für eine Gemeinschaftspraxis kennzeichnende Ausübung der ärztlichen Tätigkeit stattfindet. Ein Formenmissbrauch ist dabei nicht erst bei einer Patientenidentität von mehr als 50% anzunehmen, vielmehr können auch deutlich unter 50% liegende Quoten ausreichen. In Übereinstimmung mit diesen Vorgaben hat die Kassenärztliche Bundesvereinigung in den Richtlinien zur Durchführung der Abrechnungsprüfungen der Kassenärztlichen Vereinigungen und der Krankenkassen gemäß § 106a SGB V (DÄ 2008, Nr. 13, S. A 1925ff - ARL) in § 11 Abs. 2 bestimmt, dass eine Abrechnungsauffälligkeit bei versorgungsbereichsidentischen Praxen bereits dann zu vermuten ist, wenn eine Patientenidentität von mehr als 20 % besteht (Hessisches Landessozialgericht, Urteil vom 30. November 2016 – L 4 KA 22/14).

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht Philip Christmann
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