(22.5.2017) Beantwortet eine Krankenversicherung eine Anfrage des Patienten zur Übernahme der Behandlungskosten für eine Schlauchmagen-Operation nicht fristgerecht (sprich binnen fünf Wochen bei Einschaltung des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen - MDK - durch die Krankenversicherung), so muss sie die Behandlung bezahlen, auch wenn nicht geklärt ist, ob diese medizinsch notwendig ist (Sozialgericht München, Gerichtsbescheid vom 21. April 2017 – S 29 KR 270/16).

Operation zur Schaffung eines SchlauchmagensTenor

I. Der Bescheid vom 28. Dezember 2015 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 22. April 2016 wird aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin – aufgrund des Eintritts der Genehmigungsfiktion des § 13 Abs. 3 a Satz 6 SGB V – eine Schlauchmagen-​OP als Sachleistung zur Verfügung zu stellen.

II. Die Beklagte hat dem Kläger seine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand

1.

Der Kläger begehrt die Gewährung einer bariatrischen Operation (Schlauchmagen) als Sachleistung.

Er beantragte bei der Beklagten mit Schreiben vom 16. September 2015 (Eingang bei der Beklagten am 22. September 2015) die „Kostenübernahme für eine Schlauchmagen-​OP“. Dem Antrag legte er eine Bestätigungen über Ernährungsberatung und einen ausführlichen Arztbericht mit fachärztlicher Indikationsstellung bei. Weitere ärztliche Atteste lagen der Beklagten bereits aus einer Vorkorrespondenz mit dem Kläger seit Mai 2015 vor.

Mit Schreiben vom 24. September 2015 bestätigte die Beklagte den Antragseingang am 22.9.2015 und kündigte die Beauftragung des MDK mit einer gutachterlichen Stellungnahme an.

Die sozialmedizinischen Stellungnahme des MDK erfolgte am 22. Dezember 2015.

Anschließend wurde mit Bescheid 28. Dezember 2015 der Antrag des Klägers abgelehnt. Seit dem 24. September 2015 bis zur Bescheiderteilung am 28. Dezember 2015 ist kein weiterer Schriftverkehr der Beklagten mit dem Kläger aktenkundig.

Der Widerspruch des Klägers vom 17. Januar 2016 wurde mit Widerspruchsbescheid vom 22. April 2016 als unbegründet zurückgewiesen.

2.

Mit der bereits am 23. Februar 2016 vorab beim Sozialgericht München eingegangenen Klage verfolgt der Kläger sein Ziel weiter. Die Klage stützt sich allein auf die eingetretene Genehmigungsfiktion nach § 13 Abs. 3 a Satz 6 SGB V.
Die Beklagte hat sich zur Sache nur mit einem Abweisungsantrag eingelassen.

3.

Der Kläger beantragt (nach erforderlicher Auslegung seiner Anträge) sinngemäß,

die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger – aufgrund des Eintritts der Genehmigungsfiktion des § 13 Abs. 3 a Satz 6 SGB V eine Schlauchmagenoperation als Sachleistung zu gewähren und den entgegenstehenden Ablehnungsbescheid in Gestalt des Widerspruchsbescheides aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Im Übrigen wird gemäß § 136 Abs. 2 SGG auf den Akteninhalt verwiesen. Der Kammer haben die Beklagtenakten vorgelegen.

Entscheidungsgründe

1.

Die Anfechtungsklage in objektiver Klagehäufung mit einer Leistungsklage ist nach Erlass des Widerspruchsbescheides zulässig, da zum einen für beide das sachlich (§ 51 Abs. 1 Nr. 2 SGG) und örtlich (§ 57 Abs. 1 SGG) zuständige Sozialgericht München angerufen wurde. Zum anderen wurde für die Anfechtungsklage das gesetzlich vorgesehene (§ 78 SGG) Vorverfahren (jedenfalls nach Klageeinreichung) beendet und fristgerecht (§ 87 Abs. 2 SGG) – nämlich vorab – Klage erhoben. Die Anfechtungsklage war trotz des vorher ergangenen Fiktivbescheides erforderlich, da die dem Fiktivbescheid widersprechenden Bescheide einen der Genehmigungsfiktion entgegenstehenden Rechtsschein setzen. Die Leistungsklage bedarf keines Vorverfahrens.

Zwar hatte der Kläger ursprünglich eine Feststellung der Genehmigungswirkung begehrt jedoch im Schriftsatz vom 3. Juni 2016 zuletzt deutlich gemacht, dass er „Leistungen nach dem SGB V“ begehrt und dies nach dem Gesamtzusammenhang seiner Schriftsätze auslegungsmäßig (Meyer-​Ladewig, § 123 SGG, Randnummern 3 a, 3 b) nur bedeuten konnte, dass er unter Aufhebung der entgegenstehenden Bescheide eine Leistung aus dem von ihm als vorliegend angenommenen Fiktivbescheid begehrt.

Vorliegend konnte das Gericht darüber hinaus einen Gerichtsbescheid erlassen, da gemäß § 105 Absatz 1 Satz 1 SGG die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufwies und der Sachverhalt geklärt war. Die Beteiligten wurden ordnungsgemäß gehört, bzw. haben sich vorab mit einem Gerichtsbescheid einverstanden erklärt.

2.

Die Klage ist auch begründet. Der Kläger hat Anspruch auf die im Fiktivbescheid zugestandene Leistung.

a)

Versicherte haben Anspruch auf medizinisch notwendige (ambulante bzw. stationäre) Krankenbehandlung wenn sie notwendig ist, eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern (§ § 27,39 SGB V).

Der Antrag der Klägerin bei der Beklagten vom 22. September 2015 entfaltet mit dem Ablauf von 5 Wochen (wegen Einschaltung des MDK – § 13 Absatz 3 a Satz 1 SGB V), d.h. mit Ablauf des 27. Oktober 2015, fiktive Genehmigungswirkung.

b)

Das BSG hat in seinem Urteil vom 8. März 2016 (BSG, Urteil vom 8. März 2016, B1 KR 25/15 R, Juris) dazu folgende Voraussetzungen aufgestellt:

aa)

Der Antrag des Versicherten muss sich so hinreichend bestimmen lassen, dass die auf dieser Grundlage fingierte Genehmigung ihrerseits im Sinne von § 33 Abs. 1 SGB X hinreichend bestimmt ist (fiktionsfähiger Antrag; BSG, a.a.O., Rn. 23). Vorliegend hatte der Kläger in seinem Antrag vom 22. September 2015 unzweideutig eine „Schlauchmagen-​OP“ beantragt. Er hat außerdem sowieso schon dem sehr detaillierten Antrag noch erklärend einen Arztbericht hinzugefügt. Dieser Antrag war im Sinne der gesetzlichen Genehmigungsfiktion hinreichend bestimmt, denn man konnte daraus ein ausreichendes Bild von Art und Umfang der medizinischen Maßnahmen gewinnen.

bb)

Dieser Antrag darf nicht innerhalb der Frist des § 13 Absatz 3a Satz 1 SGB V (inklusive der möglichen Fristverlängerungen nach Satz 5) mit einem Bescheid entschieden worden sein. Die Frist beträgt hier grundsätzlich 3 Wochen (§ 13 Absatz 3a Satz 1, 1. Halbsatz SGB V), bzw. nach der dem Kläger am 24. September 2015 mitgeteilten Einschaltung des MDK, fünf Wochen (§ 13 Abs. 3 a Satz 2 SGB V).

Eine fristverlängernde Mitteilung muss nach § 13 Absatz 3a Satz 5 SGB V eine begründete Mitteilung der Fristverlängerung enthalten und dazu die von der Krankenkasse prognostizierte, taggenau anzugebende Dauer des (Fort-​)Bestehens eines solchen Verlängerungsgrundes enthalten (BSG, a.a.O., Rn. 20).

Hier ist ausweislich der Akten überhaupt kein weiteres Schreiben und damit auch kein derartiges Verlängerungsschreiben ergangen.

Die 5-​Wochen-​Frist begann demnach mit dem Tag nach Eingang des Antrags, also am 23. September 2015 und endete mit Ablauf des Tages, der nach seiner Benennung dem Tag des Antragseingang entspricht, hier also mit dem 3. Oktober 2014, also am 23. Oktober 2015 (vgl. zur Fristberechnung: Bayrisches LSG, Urteil vom 23. Februar 2016, L5 KR 351/14, Juris, Rn 29). Angesichts der Tatsache, dass der infrage kommende Bescheid erst am 28. Dezember 2015 ergangen, ist kann die Nichteinhaltung der 5-​Wochen-​Frist nicht fraglich sein.
cc)

Die Begrenzung auf erforderliche Leistungen, die den Naturalleistungsanspruch wie den naturalleistungsersetzenden Kostenerstattungsanspruch erfasst, bewirkt eine Beschränkung auf subjektiv für den Berechtigten erforderliche Leistungen, die nicht offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung liegen. Die Genehmigungsfiktion soll damit den Versicherten nicht zu Rechtsmissbrauch einladen und ihn keine Leistungsgrenzen überwinden lassen, die jedem Versicherten klar sein müssen (BSG, a.a.O., Rn. 26).

Das Antragsbegehren des Klägers ist bei seinem enormen Körpergewicht von 194 kg bei einer Körpergröße von 1,85 m und einem Body-​Maß-​Index von 56 kann eine operative Maßnahme nach den interdisziplinären Leitlinien der deutschen Adipositasgesellschaft (Seite 67) auch primär und ohne eine präoperative konservative Therapie durchgeführt werden, insbesondere wenn der Body-​Maß-​Index über 50 kg/Quadratmeter liegt und schwere Begleit und Folgekrankheiten zu befürchten sind. Umso mehr muss es sich dem Kläger aus individueller Laiensicht bei Antragstellung aufgedrängt haben, dass hier nur noch ein operativer Eingriff Hilfe bringen kann.

Etwaige fachmedizinische Leistungsgrenzen, wie sie vom MDK in seinem Gutachten vom 22. Dezember 2015 vorgetragen werden, musste der Kläger als medizinischer Laie subjektiv nicht kennen und sie müssen auch nicht jedem Versicherten klar sein. Eine rechtsmissbräuchliches Verlangen des Klägers ist bei dieser Sachlage ausgeschlossen.

3.

Auf alle weiteren Argumentationen bezüglich einer Begrenzung des § 13 Abs. 3 a SGB V – etwa allein auf einen Anspruch auf Erstattung der Kosten für medizinisch notwendig und bereits selbstbeschaffte Leistungen – sind nach Auffassung des Gerichts mit der Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 8. März 2016, B1 KR 25/15 R hinfällig. Dort werden zweifelsfrei der Naturalleistungsanspruch und der naturalleistungsersetzende Kostenerstattungsanspruch nebeneinander gestellt. Dabei wird vor allem herausgestellt, dass der Naturalleistungsanspruch Kraft Genehmigungsfiktion auch mittellosen Versicherten, die nicht in der Lage sind, sich die begehrte Leistung selbst zu beschaffen, ermöglichen soll, die fiktiv genehmigte Leistung (als Sachleistung) zu erhalten (BSGE, a.a.O., Rn. 25). Die gegenteilige Auffassung würde zu einem Ausschluss der pekuniär nicht leistungsfähigen Versicherten aus dem System der Fiktivgenehmigungen führen. Dies ist als grundgesetzeswidrig abzulehnen (vgl. auch Bayerisches LSG, Beschluss vom 10. März 2017, L5 KR 141/17 IR, Seite 5).

4.

Die dem Fiktivbescheid nachträglich entgegen gestellten Bescheide (Bescheid vom 28. Dezember 2015 2015 und Widerspruchsbescheid vom 22. April 2016) sind rechtsunwirksam und daher im Rahmen der in objektiver Klagehäufung erhobenen Anfechtungsklage zur Vermeidung eines rechtswidrigen Rechtsscheins aufzuheben.

Auch eine fingierte Genehmigung bleibt wirksam, solange sie nicht zurückgenommen, widerrufen, anderweitig aufgehoben oder durch Zeitablauf oder auf andere Weise erledigt ist (BSG, Urteil vom 8. März 2016, a.a.O., Rn. 31). Die fingierte Genehmigung schützt also den Adressaten dadurch, dass sie ihre Wirksamkeit ausschließlich nach diesen allgemeinen Grundsätzen (bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen) verlieren kann (BSG, a.a.O., Rn. 32). So bleibt der naturalleistungsersetzende Erstattungsanspruch selbst dann erhalten, wenn der Versicherte vor Selbstbeschaffung die ablehnenden Bescheide der Krankenversicherung erhalten hat Die Ablehnung der Leistung regelt weder ausdrücklich noch sinngemäß, weder förmlich noch inhaltlich eine Rücknahme der fingierten Genehmigung (BSG, a.a.O., Rn. 32).

Dies gilt auch für den vorliegenden Fall. Der Beklagte war sich bei Erlass der streitgegenständlichen Bescheide offensichtlich in keinster Weise bewusst, dass bereits ein begünstigender Fiktivbescheid vorlag. Die streitgegenständlichen Ablehnungsbescheide gehen daher auch ausschließlich auf die materielle Rechtslage ein und setzen sich mit keinem Wort mit der Wirksamkeit des Fiktivbescheides auseinander. Zweimal kann die Beklagte jedoch nicht in derselben Sache unterschiedlich entscheiden. Die dem Fiktivbescheid entgegenstehenden Bescheide waren daher auch aus Gründen der Rechtsklarheit aufzuheben.

5.

Damit war der Klage in vollem Umfang stattzugeben, ohne auf weitere Details des materiellen Krankenversicherungsrechts eingehen zu müssen. Die Rechtmäßigkeit einer fingierten Genehmigung beurteilt sich ausschließlich nach der Erfüllung der Voraussetzungen des § 13 Abs. 3 a SGB V und nicht nach den Voraussetzungen des geltend gemachten Naturalleistungsanspruch (BSG, a.a.O., Rn. 32).

Die Kostenentscheidung ergibt Sie aus § 193 SGG.

Praxisanmerkung:

Wird für die Krankenversicherung erkennbar, dass sie - wie so oft - die Anfrage des Versicherten nicht in der recht kurzen gesetzlichen Frist beantworten kann, muss sie dem Versicherten eine fristverlängernde Mitteilung nach § 13 Absatz 3a Satz 5 SGB V geben. Diese muss eine begründete Mitteilung der Fristverlängerung enthalten und dazu die von der Krankenkasse prognostizierte, taggenau anzugebende Dauer des Fortbestehens eines solchen Verlängerungsgrundes (sprich der Verzögerungsgründe) benennen. 

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht Philip Christmann
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