(6.3.17) Wird eine Schlauchmagenoperation zur Gewichtsreduktion (bariatrische Operation) einer stark adipösen Frau nach erfolgloser Durchführung konservativer Maßnahmen zur Gewichtsreduktion ärztlich empfohlen und liegt kein Ausschluß dieser Operation vom Katalog der gesetzlichen Leistungen der Krankenversicherung vom Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) vor, so hat ihre gesetzliche Krankenversicherung die Kosten der Operation zu übernehmen. Ab einem Body-Mass-Index von mehr als 50 kg/m² besteht eine absolute Indikation für eine solche bariatrische Operation (Sozialgericht Regensburg, Urteil vom 13. Oktober 2016 – S 2 KR 562/15).

OP SchereAnmerkung:

Besonderheit dieses Falles ist, dass auch die beklagte Krankenversicherung davon ausging, dass die Adipositas Grad III Krankheitswert besitzt, die Frau also als krankhaft übergewichtig anzusehen war (manche Versicherungen sehen die schwere Adipositas bereits nicht als Krankheit an). Streitig war hier (allein), ob die konservativen Möglichkeiten (Diäten, vermehrter Sport etc.) ausgeschöpft waren. Dies wurde sowohl von den behandelnden Ärzte als auch von der medizinischen Sachverständigen bejaht. 

Tenor

I. Unter Aufhebung des Bescheides vom 29. Juni 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. November 2015 wird die Beklagte (gesetzliche Krankenversicherung) verurteilt, die Kosten für eine minimalinvasive adipositas-​chirurgische Operation zu übernehmen.

II. Die Beklagte hat der Klägerin ihre notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Klägerin Anspruch auf Kostenübernahme für eine adipositas-​chirurgische Operation hat.

Die am 13.12.1981 geborene Klägerin ist bei der Beklagten gegen Krankheit versichert. Bei der Klägerin besteht eine Adipositas per magna des Grades III. Der Body Mass Index (BMI) der Klägerin bewegte sich in den vergangen beiden Jahren um die 60 kg/m². Infolge der bereits seit vielen Jahren bestehenden Adiposidas leidet die Klägerin unter Folgeerkrankungen. Bei der Klägerin liegt u. a. ein Bluthochdruck, ein Diabetes mellitus Typ II, eine Fettstoffwechselstörung sowie überlastungsbedingten Wirbelsäulen- und Kniegelenksbeschwerden vor.

Mit Schreiben vom 06.05.2015 beantragte die Klägerin die Kostenübernahme für eine bariatrische Operation. Seitens des Herrn Dr. D. vom in A-​Stadt wurde dieser Antrag unterstützt und die Kostenübernahme für eine Schlauchmagenoperation für die Klägerin für notwendig erachtet. Dieser führte an, dass bei Vorliegen eines BMI >60 kg/m² nach der aktuell verfügbaren Literatur eine relevante Gewichtsbeeinflussung auch unter multimodaler Therapie nicht zu erwarten sei. Auf Grund der von ihm vorgelegten Unterlagen ging Herr Dr. D. davon aus, dass für den beantragten Eingriff keine Kontraindikationen vorliegen. Auch der Hausarzt der Klägerin befürwortete die beantragte Maßnahme (vgl. Attest vom 26.04.2015). Dieser verwies darauf, die Klägerin seit ihrer frühen Jugend adipös sei und dass sie im Laufe ihrer Lebensgeschichte viele Diäten und Gewichtsreduktionsprogramme mit und ohne Begleitung hinter sich gebracht habe.

Zur Vorlage kam auch ein Befund der Dipl.-​Psych. W. vom 06.05.2015. Auch die Internistin und Ernährungsmedizinerin Frau Dr. M. äußerte sich befürwortend (vgl. Schreiben vom 15.04.2015). Die von Frau Dr. M. erhobenen Laborwerte wurden einschließlich eines Berichtes der Ärztin vorgelegt. Neben weiteren ärztlichen Unterlagen kam noch ein Bewegungs- und Ernährungsprotokoll bei der Beklagten in Vorlage.

Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) erstattete eine Stellungnahme. Darin wurde das Vorliegen einer Adipositas mit Krankheitswert bei der Klägerin bejaht. Konservative Therapiemöglichkeiten hielt der MDK weiterhin für erfolgversprechend. Auch seien noch Kontraindikationen auf endokrinologischem Gebiet abzuklären. Darauf nahm die Beklagte Bezug, als sie mit Bescheid vom 29.06.2015 den Leistungsantrag der Klägerin ablehnte. Sie vertrat die Auffassung, dass noch nicht alle Maßnahmen bzw. noch nicht alle Untersuchungen abgeschlossen seien.

Die Klägerin erhob mit Schreiben vom 13.07.2015 hiergegen Widerspruch. Gegen die Leistungsablehnung wandte sich auch Herr Dr. D. mit Schreiben vom 14.07.2015. Schließlich wurde das MDK-​Gutachten vom 14.10.2015 erstattet. Danach lässt sich aus der vorhandenen Dokumentation die konsequente Durchführung eines multimodalen konservativen Therapieprogrammes unter ärztlicher Kontrolle zeitlich zusammenhängend nicht erkennen. Es wurde die Fortführung und Komplettierung der bereits begonnenen konservativen Therapie empfohlen.

In der Folge wurde noch der Widerspruch damit begründet, dass eine primäre Indikation zur beantragten Maßnahme vorliegt.

Mit Bescheid vom 12.11.2015 wurde der Widerspruch als unbegründet zurückgewiesen. In den Gründen werden die Voraussetzungen für eine operative Intervention als mittelbare Behandlungsmaßnahme dargelegt, insbesondere der Umstand, dass alle adipositas-​chirurgischen Maßnahmen einer besonderen Rechtfertigung bedürfen, da sie in ein funktionell intaktes Organ eingreifen. In diesem Zusammenhang wurde - von den Kriterien zur Annahme der erforderlichen Ultima-​ratio-​Lage - insbesondere die Ausschöpfung konservativer Behandlungsmöglichkeiten durch die Klägerin verneint. Die notwendige Durchführung von Ernährungstherapie, Bewegungstherapie und Verhaltenstherapie wurde als nicht erfüllt angesehen.

Die entscheidende Widerspruchsstelle wandte sich gegen die Annahme des Herrn Dr. D., dass beim vorliegenden BMI eine primäre Indikation für die beantragte Maßnahme vorliegt. Sie verwies darauf, dass für den Zusammenhang zwischen der Höhe des BMI und der primären Indikation (ohne vorangegangene konservative Maßnahmen) in der Leitlinie "Prävention und Therapie der Adipositas" vom April 2014 nur der Evidenzgrad 0 angegeben ist. Auf den Sonder-​Kommentar der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin (DGEM) e. V. zur primären Indikation in der v. g. Leitlinie wurde verwiesen. Es gebe bis jetzt kein Urteil des BSG, wonach bei der Begutachtung adipositas-​chirurgischer Maßnahmen eine Grenze des BMI zu beachten wäre, deren Überschreitung die Bewertung hinsichtlich einer Ultima Ratio - Situation aufheben könnte.

Hiergegen richtet sich die Klage vom 14.11.2015.

Das Gericht hat Befundberichte von Herrn Dr. C. und von der Dipl.-​Psych. W. angefordert.

Im Auftrag des Gerichts hat Frau Dr. E. ihr Gutachten vom 07.07.2016 nach Untersuchung der Klägerin erstattet. Die ärztliche Sachverständige gelangte zu dem Ergebnis, dass die konservativen Therapiemaßnahmen, das multimodale Adipositasprogramm zur Gänze ausgeschöpft sind. Zudem liege eine primäre Indikation vor. Kontraindikationen für eine bariatrische Operation bestünden nicht. Das Operationsrisiko sei tolerabel und die Klägerin hochmotiviert.

Die Klägerin ist der Auffassung, dass bei ihr nicht-​chirurgische Therapien offensichtlich weder verfügbar noch erfolgversprechend sind. Die streitgegenständliche Operation stelle offensichtlich die Ultima Ratio dar. Dabei wird auf den Leitfaden zur Begutachtung des Medizinischen Dienstes des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDS) Bezug genommen. Es besteht der Klägerin zufolge eine primäre Indikation nach der S3-​Leitlinie "Chirurgie der Adipositas" (2010) und nach der S3-​Leitlinie "Prävention und Therapie der Adipositas" aus dem Jahr 2014. Dieser Fall wird von der Klägerin alleine schon wegen des vorliegenden BMI angenommen. Es wird zur weiteren Begründung auf eine Rechtsprechungsübersicht mit Urteilen erster und zweiter Instanz verwiesen.

Die Klägerin hat mit Schriftsatz vom 14.11.2015 beantragt:

  1. Der Bescheid der Beklagten vom 29. Juni 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. November 2015 wird aufgehoben.
  2. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin antragsgemäß eine minimalinvasive adipositas-​chirurgische Operation als Sachleistung zu gewähren.
  3. Die Beklagte trägt die Verfahrenskosten.

Die Beklagte hat mit Schriftsatz vom 01.08.2016 beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte die Auffassung, dass die Klägerin keinen Anspruch auf Kostenübernahme einer bariatrischen Operation hat. Insoweit wird auf den Widerspruchsbescheid vom 12.11.2015 Bezug genommen. "Aufgrund des übersandten Gutachtens" ergebe sich für die Beklagte "keine andere Situation". Es liege auch weiterhin keine Ultima-​ratio-​Maßnahme vor.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren einverstanden erklärt (vgl. das Telefax vom 17.09.2016 und den Schriftsatz vom 19.09.2016).

Zur weiteren Ergänzung des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der beigezogenen Akten der Beklagten und auf den Inhalt der gerichtlichen Verfahrensakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die form- und fristgerecht (§§ 90, 92, 87 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG) zum sachlich und örtlich zuständigen Sozialgericht Regensburg (§§ 51 Abs. 1, 57 Abs. 1 Satz 1 SGG) erhobene Klage ist zulässig.

Die Klage ist auch begründet. Die Klägerin hat Anspruch auf Kostenübernahme für eine adiopsitas-​chirurgische Operation.

Versicherte haben Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern (§ 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V). Die Krankenbehandlung umfasst auch die Krankenhausbehandlung (§§ 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5, 39 SGB V). Unter Krankheit ist der regelwidrige vom Leitbild eines gesunden Menschen abweichende Körper- und Geisteszustand zu verstehen, der ärztlicher Behandlung bedarf und/oder Arbeitsunfähigkeit bedingt (vgl. BSG SozR 4-​2500 § 27 Nr. 3, ständige Rechtsprechung). Bei der Klägerin liegt eine Adipositas vor. Darunter ist die über das Normalmaß hinausgehende Vermehrung des Körperfettes zu verstehen (vgl. Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 266. Aufl., S. 29). Zur Messung wird unter anderem der sog. Body-​Mass-​Index (BMI) herangezogen, bei dessen Ermittlung das Verhältnis von Körpergewicht zu Körpergröße herangezogen wird (vgl. Pschyrembel, a.a.O., S. 305). Es wird zwischen drei Graden der Adipositas unterschieden. Der Adipositas Grad I reicht von einem BMI von >30 und <35 kg/m², der Grad II von >/gleich 35 und <40 kg/m² und der Grad III von >/gleich 40 kg/m². Erfordert die Adipositas eine ärztliche Behandlung, belegt dies zugleich die Regelwidrigkeit des bestehendes Zustandes und damit das Vorliegen einer Krankheit im krankenversicherungsrechtlichen Sinn (vgl. BSGE 90, 289 ff., 290). Bei der Klägerin liegt präoperativ bei einem BMI von ca. 60 kg/m² unstreitig Krankheitswert vor, mit der Notwendigkeit therapeutischer Maßnahmen.

Die Prüfung und Entscheidung darüber, ob eine im Krankenhaus angewandte Behandlungsmethode nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse als wirksam und zweckmäßig einzuschätzen ist und damit dem geforderten Versorgungsstandard entspricht, obliegt nicht den Krankenkassen oder den Gerichten, sondern gem. § 137c SGB den Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA).

Der Gesetzgeber hat hierbei - anders als im ambulanten Bereich - auf einen Erlaubnisvorbehalt für neue Behandlungsmethoden verzichtet. Dies hat wiederum zur Folge, dass im Krankenhaus grundsätzlich auch neuartige Verfahren keiner vorherigen Zulassung bedürfen, sondern zu Lasten der Krankenversicherung angewendet werden können, solange sie nicht vom zuständigen Ausschuss ausgeschlossen sind (vgl. BSGE 90, 289 ff., 294). Dies ist bei der beantragten Maßnahme nicht der Fall.

Davon abgesehen müssen auch Behandlungen im Krankenhaus den in §§ 2 Abs. 1 Satz 3, 12 Abs. 1 und 28 Abs. 1 SGB V für die gesamte Krankenversicherung festgelegten Qualitätskriterien genügen. Da die adipositas-​chirurgischen Maßnahmen eine mittelbare Therapie der Adipositas darstellen, gelten die hierfür von der Rechtsprechung entwickelten Kriterien. Art und Schwere der Erkrankung, die Dringlichkeit der Intervention, die Risiken und der zu erwartende Nutzen der Therapie sind gegeneinander abzuwägen (vgl. BSGE 85, 56 ff., 60).

Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob diese Voraussetzungen im Falle der Klägerin erfüllt sind. Die therapeutischen Bemühungen der Klägerin, ihr Gewicht zu reduzieren, blieben ohne Erfolg. Zu den Bausteinen der multimodalen Therapie zählen die Komponenten Ernährungs- Bewegungs- und Verhaltenstherapie. In der interdisziplinären S3-​Leitlinie zur Prävention und Therapie der Adipositas (Stand 2014) werden diese Elemente der sog. konservativen Therapie ausführlich beschrieben. Die multimodale Therapie sollte eine wenigstens 6 bis 12-​monatige konservative Therapie umfassen, deren Elemente von Frau Dr. E. in ihrem Gutachten auf den Seiten 83 ff. auch aufgeführt werden. Dabei hat sich die Therapie nach den gesundheitlichen Verhältnissen der Klägerin, wie etwa dem Vorhandensein von Komorbiditäten, auszurichten. Diese konservativen Therapiemaßnahmen hat die Klägerin nach den überzeugenden Darlegungen von Frau Dr. E. bereits ausgeschöpft, ohne dass eine anhaltende Gewichtsabnahme bei der Klägerin resultierte. Dabei verweist die ärztliche Sachverständige auf das seit März 2015 durchgeführte multimodale Adipositasprogramm unter ärztlicher Betreuung von Frau Dr. M.. Es ist Frau Dr. E. zuzustimmen, wenn sie bezüglich der Bewegungstherapie die Alltagsaktivitäten der Klägerin in ihre Beurteilung einbezieht.

Unabhängig von dieser durchgeführten präoperativen konservativen Therapie, liegt bei der Klägerin zudem eine primäre Indikation für eine adipositas-​chirurgische Maßnahme vor.

Frau Dr. E. verweist zutreffend auf die S3-​Leitlinie zur "Prävention und Therapie der Adipositas", welche für die primäre Indikation einen BMI von >50 kg/m² voraussetzt. Die Maßnahme stellt bei der Klägerin eine Ultima Ratio dar, wie bereits Herr Dr. D. vom Krankenhaus in A-​Stadt dargelegt hat.

Es liegen auch keine Kontraindikationen vor. Von psychischer Seite ist insbesondere auf die Beurteilung der Frau Dipl.-​Psych. W. vom Krankenhaus in A-​Stadt zu verweisen. Zudem wird das Operationsrisiko von der ärztlichen Sachverständigen Frau Dr. E. für tolerabel eingeschätzt. Die Klägerin ist - nicht zuletzt durch die behandelnden Ärzte, insbes. Frau Dr. M. - umfassend informiert. Die notwendige ärztliche postoperative Begleitung der Klägerin ist sichergestellt. Somit sind die Voraussetzungen für die beantragte Maßnahme erfüllt.

Die Kostenfolge ergibt sich aus § 193 SGG.

Hintergrund:

Derzeit erlebt die Bildung eines Schlauchmagens (Sleeve-Resektion) international einen enormen Aufschwung. Von der Häufigkeit des Eingriffs liegt die Schlauchmagenoperation mittlerweile deutlich vor dem Magenbypass (Statistisches Bundesamt 2012: Schlauchmagen 3351 gegenüber 3157 Magenbypass-OPs). Dabei wird der Magen entlang der großen Kurvatur reseziert, sodass ein schlauchförmiger Magenrest (kleine Kurvatur) verbleibt. Das resultierende Magenvolumen beträgt 100-150 ml. Der abgetrennte Magenteil wird im Unterschied zum Magenbypass entfernt. Die Nähte dieses Schlauches sind sehr anspruchsvoll und werden mit Klammer-Schneidegeräten laparoskopisch vorgenommen. In erfahrenen Zentren liegt die Komplikationsrate unter 1 % (Quelle: wikipedia.de).

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht Philip Christmann
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