(9.11.2016) Hat ein Unfallereignis an der eingetretenen Funktionsbeeinträchtigung (hier: starke Rückenbeschwerden) mitgewirkt, so hat ein privat Unfallversicherter Anspruch auf Invaliditätszahlungen, wenn diese Mitwirkung nicht gänzlich außerhalb aller Wahrscheinlichkeit liegt. Das Vorhandensein von Vorschäden (hier: altersbedingte Spinalkanalstenose bzw. Arthrose) schließt diese Mitwirkung für sich genommen nicht aus. Eine wesentliche oder richtungsgebende Mitwirkung des Unfalls für die Beschwerden ist - anders als im Sozialversicherungsrecht - nicht zu verlangen (Bundesgerichtshof, Urteil vom 19. Oktober 2016 – IV ZR 521/14).

Aufnahmen der Wirbelsäule

Der Fall:

Die Klägerin nimmt die beklagte private Unfallversicherungaus einer bei ihr auf Grundlage der Allgemeinen Unfallversicherungs-Bedingungen (AUB 2000) unterhaltenen Unfallversicherung auf Zahlung einer Invaliditätsentschädigung von 34.000 € in Anspruch.

Am 2. November 2009 war die Klägerin als Übungsleiterin in einem Sportverein bei einem Kinderturnen tätig. Dabei gab sie einem zehnjährigen Jungen beim Versuch eines Flickflacks Hilfestellung. Infolge einer hierbei ausgeführten Drehbewegung kam sie selbst zu Fall und fing sich mit den Händen auf der Turnmatte ab. Danach verspürte sie heftige Schmerzen im Kreuz. Am nächsten Tag konnte sie nicht mehr alleine aus dem Bett aufstehen. Zwei bis drei Tage später war sie nicht mehr in der Lage, auf dem linken Bein zu stehen. Nachdem sich die Schmerzen bis zu einer Ohnmacht ausgeweitet hatten, begab sie sich vom 5. bis 9. November 2009 in stationäre Behandlung. Dabei wurden im MRT bei L4/L5 eine Bandscheibenprotrusion und eine Spinalkanalstenose festgestellt.

Die Beklagte verweigerte Leistungen aus der Unfallversicherung; die Beschwerden beruhten auf den altersbedingten Vorschäden und nicht auf dem Unfall. Landgericht und Oberlandesgericht gaben der Versicherung Recht. 

Die Entscheidung:

Der Bundesgerichtshof bestätigte die Rechtsauffassung der Klägerin und verwies die Sache zurück an das Oberlandesgericht. Denn die Kausalität des Unfallgeschehens für die Gesundheitsbeeinträchtigung der Klägerin wäre (auch dann) zu bejahen, wenn die bei dem Vorfall auf die Klägerin einwirkenden Kräfte - mögen sie auch gering gewesen sein - die Aktivierung der zuvor klinisch stummen Facettengelenksarthrose bewirkt und damit die geltend gemachten Dauerbeschwerden ausgelöst haben. Die entsprechenden Feststellungen wird das Oberlandesgericht noch zu treffen haben.

Im privaten Unfallversicherungsrecht ist ein ausreichender Zusammenhang zwischen Unfall und Invalidität (sog. Adäquanz) schon bei einer nicht gänzlich außerhalb aller Wahrscheinlichkeit liegenden Mitwirkung gegeben (Senatsurteil vom 23. Oktober 2013 - IV ZR 98/12, VersR 2013, 1570 Rn. 21; OLG Hamm VersR 2013, 573, 575; Marlow/Tschersich, r+s 2009, 441, 444 f.). Daher schließt das Vorhandensein von Vorschäden für sich genommen die Kausalität nicht aus.

Das Adäquanzerfordernis bezweckt nicht, die Folgen von Gesundheitsschädigungen, die nahezu ausschließlich durch ihre gesundheitliche Verfassung geprägt sind, von vornherein vom Versicherungsschutz auszuschließen. Dies wird der durchschnittliche Versicherungsnehmer entgegen der Auffassung der Revisionserwiderung auch dem Klauselwerk nicht entnehmen. Er wird vielmehr gerade aus der Regelung über die Mitwirkung von Krankheiten und Gebrechen an der durch den Unfall verursachten Gesundheitsschädigung schließen, dass er im Grundsatz auch dann Versicherungsschutz genießt, wenn Unfallfolgen durch eine bereits vor dem Unfall vorhandene besondere gesundheitliche Disposition verschlimmert werden (Senatsurteil vom 23. Oktober 2013 aaO Rn. 24). Zudem würde ein Ausschluss der Kausalität über die Figur der "Gelegenheitsursache" die Beweislast des Versicherers für die Mitwirkung von Vorerkrankungen (vgl. hierzu Senatsurteil vom 23. November 2011 - IV ZR 70/11, VersR 2012, 92 Rn. 16) unzulässig auf den Versicherungsnehmer verlagern (vgl. OLG Saarbrücken, Urteil vom 16. März 2011 - 5 U 464/08, juris Rn. 39). 

Praxisanmerkung:

In fast allen Fällen, in denen ein Versicherter Ansprüche aus einer Unfallversicherung geltend macht, behaupten die Versicherungen, die Beschwerden beruhten nicht auf dem Unfall, sondern auf einer Vorerkrankung oder auf degenerativen Zuständen, sprich Altersverschleiß. Zumindest seien die Beschwerden erst durch eine Aktivierung einer vorher stummen Erkrankung ausgelöst. Ist der Betroffene gesetzlich unfallversichert, so kommt die Versicherung mit diesem Einwand oft durch. Der BGH hat hier klargestellt, dass ein privat Unfallversicherter aber bessere Karten hat.  

Wichtig für alle Unfallversicherten ist es, nach Auftreten unfallbedingter Beschwerden sofort zum Arzt zu gehen oder diesen um einen Hausbesuch zu bitten. Warten Sie nicht erst einige Wochen ab, sondern lassen Sie die Beschwerden sogleich ärztlich dokumentieren. Wichtig ist es, dass sogleich bildgebende Befunde und Laborbefunde erhoben werden. Andernfalls können wichtige Beweise verloren gehen und der Zusammenhang zwischen Unfall und Beschwerden kann verwässert werden. 

Zum Thema: 

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht Philip Christmann
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