Vor einer chiropraktischen Behandlung (Mobilisiation) der Halswirbelsäule hat der Arzt ein Röntgen der HWS durchzuführen und den Patienten neurologisch zu untersuchen sowie die Funktionsdefizite festzustellen und zu dokumentieren. Tut er dies nicht, stellt dies (nur) einen einfachen Fehler dar (OLG Hamm, Urteil vom 15.03.2016 - I-26 U 137/15 und 26 U 137/15).

Aufnahmen der WirbelsäuleDer Fall:

Die u.a. an rheumatoider Arthritis leidende, 1958 geborene Klägerin suchte am 26.12.2012 wegen Nackenschmerzen den vertragsärztlichen Notfalldienst im St. G-​Hospital X auf. Diensthabende Ärztin war die Beklagte. Der konkrete Behandlungsablauf steht zwischen den Parteien im Streit.

Die Klägerin hat der Beklagten vorgeworfen, durch eine chiropraktische Manipulation der Halswirbelkörper C3-​C5 einen Zwerchfellhochstand mit beidseitiger Zwerchfelllähmung und eine Schädigung bzw. Lähmung des nervus phrenicus (Phrenicus-​Parese) mit der Folge erheblicher Atemnot hervorgerufen zu haben. Sie habe ihr hierbei drei kurze, ruckartige und heftige Stöße gegen den Kopf versetzt, wobei es zu einer Überdehnung der Halswirbelsäule (HWS) gekommen sei. Anschließend habe die Beklagte ihr von hinten um den Brustkorb gefasst und diesen zusammengedrückt, wobei ihre Arme verschränkt vor dem Brustkorb positioniert gewesen seien. Vor der Behandlung sei sie nicht darüber aufgeklärt worden, dass eine chiropraktische Behandlung erfolgen solle. Alternativen seien ihr nicht dargelegt worden. Der Zustand ihrer HWS hätte vor der Behandlung auf etwaige Vorschäden, z.B. durch vorheriges Röntgen, ein CT oder MRT abgeklärt werden müssen. Die Beklagte bestritt diesen Behandlungsverlauf. 

Die Entscheidung:

Nach Einholung eines Sachverständigengutachtens formulierte das Landgericht folgende Grundsätze für die chiropraktische Behandlung der Halswirbelsäule (denen sich das OLG später anschloss):

Die Beklagte habe vor der chiropraktischen Behandlung wichtige differenzialdiagnostische Schritte behandlungsfehlerhaft unterlassen. Sie hätte sowohl weitergehende neurologische Untersuchungen als auch eine röntgenologische Untersuchung der HWS durchführen müssen. Eine (sub-​)akute Nackenschmerzenbehandlung verlange eine Anamnese und Befunderhebung einschließlich orthopädischer und neurologischer Untersuchung und deren Dokumentation. Um die bestehenden Behandlungsalternativen (Medikamentengabe, Wärmebehandlung) patienten- und sachgerecht gegeneinander abwägen zu können hätte die Beklagte die Klägerin zunächst gründlich untersuchen und die vorliegenden Funktionsdefizite feststellen und festhalten müssen. Wegen der vorbestehenden rheumatoiden Arthritis hätte vor der Mobilisationsbehandlung in einem zweiten Schritt in jedem Fall ein Röntgenbild der HWS angefertigt werden müssen. In diesem Zusammenhang wäre das bei der Klägerin bestehende chronische Schmerzsyndrom aufgefallen, welches eine andere Behandlungsstrategie nach sich gezogen hätte. Auch sei insoweit die erforderliche Befunderhebung unterblieben. Darüber hinaus sei die anschließende Durchführung der chiropraktischen Anwendung vor dem Hintergrund der nicht ausreichenden Befunderhebung im Vorfeld behandlungsfehlerhaft gewesen. Hinsichtlich der Einzelheiten der durchgeführten chiropraktischen Behandlung nach Arlen sowie der traktorischen Mobilisation der Brustwirbelsäule sei zunächst nach Anhörung der Parteien der überzeugenden Darstellung der Beklagten zu folgen. Die Beklagte habe diese Behandlung zwar kunstgerecht durchgeführt, sie hätte die Klägerin aber durch Wärme und Schmerzmedikamentengabe behandeln müssen.

Praxishinweis: 

Die Klage wurde schließlich aber doch vom OLG abgewiesen, weil die Klägerin nicht nachweisen konnte, dass ihre aktuellen Beschwerden gerade auf dem Fehlverhalten der Klägerin beruhen (und nicht etwa auf ihren Vorerkrankungen). Und LG und OLG sahen die Fehler nicht als "grob" an, so dass die Klägerin nicht in den Genuss einer Beweislastumkehr kam. 

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht Philip Christmann
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