Auch wenn der Patient verstorben ist und deshalb keine Einwilligung in eine Akteneinsicht der Krankenkasse mehr geben kann, ist die Kasse zur Einsicht in die Behandlungsunterlagen des Arztes berechtigt, weil regelmäßig davon auszugehen ist, dass dies dem mutmaßlichen Interesse des Verstorbenen entspricht (AG Wunsiedel, Urteil vom 22.12.2015 - 1 C 10/15).
Abstract:
Gibt die Klinik bzw. der Arzt die Behandlungsunterlagen nicht an die Kasse heraus, so bleibt der Kasse nichts anderes übrig, als hinsichtlich eines Behandlungsfehlers nur vage vorzutragen. Es reicht dann der Vortrag, Anhaltspunkte für ein Verschulden der Mitarbeiter der Beklagten lägen vor und der Patient sei dadurch zu Schaden gekommen. In Fällen, in denen die Entbindung von der Schweigepflicht dem Träger der gesetzlichen Krankenkassen die Verfolgung von Schadenersatzansprüchen ermöglichen soll, wird regelmäßig davon auszugehen sein, dass die Offenlegung der Unterlagen gegenüber dem Krankenversicherer dem mutmaßlichen Willen des verstorbenen Heimbewohners entspricht. Eine Trennung zwischen Kranken- und Pflegeunterlagen kann denknotwendig nicht erfolgen, da diese insbesondere bei einer Behandlung im Krankenhaus aufeinander Bezug nehmen und in ihrer Gesamtheit die Unterlagen bezüglich des Patienten bilden. Der Anspruch der Kasse auf Einsicht ergibt sich aus § 116 Abs. 1 Satz 1 SGB X, § 401 Abs. 1 analog, § 412 BGB. Der allgemeine Einsichtanspruch aus § 630 g BGB ist vorliegend nicht anwendbar.
Der Fall:
Tenor:
1. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin die nachfolgenden Behandlungsunterlagen, nämlich Pflegeverlaufsberichte, Lagerungsprotokolle, Bradenskala, Wunddokumentation, über die Patientin .... , die mit deren Behandlung bei der Beklagten im Zeitraum vom 16.10.2011 - 21.10.2011 in Zusammenhang stehen, in Kopie herauszugeben - Zug um Zug gegen Erstattung der hierfür erforderlichen und angemessenen Kosten.
2. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 2700,00 €.
Beschluss
Der Streitwert wird auf 2.000,00 € festgesetzt.
Tatbestand
Die Klägerin ist gesetzlicher Versicherungsträger der Frau .... (im folgenden: F) F wurde vom vom 16.10.2011 bis 21.10.2011 stationär bei der Beklagten behandelt. Die Klägerin begehrt die Herausgabe der Behandlungsunterlagen, um selbst bzw. nach § 275 Abs. 3 Nr. 4 SGB V durch den MDK (medizinischer Dienst der Krankenkassen) prüfen zu lassen, ob ein Behandlungs- oder Pflegefehler durch die Beklagte vorliegt, der auf sie nach § 216 SGB X übergegangen ist. Die Beklagte verweigert jedoch die Herausgabe der Behandlungsunterlagen der Patientin F. Eine Schweigepflichtentbindungserklärung der verstorbenen Versicherungsnehmerin oder deren Erben in die Einsicht und Herausgabe der Krankenunterlagen liegt nicht vor.
Die Klägerin behauptet, es lägen Anhaltspunkte dafür vor, dass die Patientin F im Zuständigkeitsbereich der Beklagten Verletzungen erlitten habe, die auf einer Pflichtverletzung der Beklagten oder ihrer Mitarbeiter beruhe. Die Klägerin ist der Ansicht, sie habe einen Herausgabeanspruch gegenüber der Beklagten zum Zwecke der Begutachtung bzw. Prüfung eines etwaigen Regressanspruches. Insoweit genüge der Verdacht eines ärztlichen Behandlungsfehlers bzw. einer Pflichtverletzung, zu dessen Prüfung es der Herausgabe der streitgegenständlichen Unterlagen bedarf. Der Herausgabeanspruch ergebe sich aus dem § 116 Abs. 1 SGB X In Verbindung mit den §§ 401, 412 BGB. Dieser grundsätzlich der geschädigten Person zustehende Herausgabeanspruch stehe auch dem Sozialversicherungsträger als Nebenrecht zu. Die Klägerin verweist insoweit auf die Rechtsprechung des BGH in den Urteilen vom 23.03.2010, VIZR 249/08, aus der Entscheidung vom 23.03.2010, VI ZR 327/08, aus der Entscheidung vom 26.02.2013, VI ZR 359/11, LG Oldenburg vom 22.10.2013, 8 T 811/13. Des Weiteren sei auch regelmäßig von der mutmaßlichen Einwilligung des Patienten auszugehen, sodass auch eine Schweigepflichtsentbindungserklärung des Patienten oder seiner Erbin nicht erforderlich sei. Insoweit wird auf die Entscheidung des BGH vom 26.02.2013, VI ZR 359/11 und OLG München vom 19.09.2011, 1 W 1320/11 verwiesen.
Die Klägerin beantragt daher:
Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin die nachfolgenden Behandlungsunterlagen, nämlich Pflegeverlaufsberichte, Lagerungsprotokolle, Bradenskala, Wunddokumentation, über die Patientin F die mit deren Behandlung bei der Beklagten im Zeitraum vom 16.10.2011 bis 21.10.2011 in Zusammenhang stehen, in Kopie herauszugeben - Zug um Zug gegen Erstattung der hierfür erforderlichen und angemessenen Kosten.
Die Beklagte beantragt:
Klageabweisung.
Die Beklagte ist der Ansicht, dass bereits ein sachliches Interesse für die beantragte Einsichtnahme in die Behandlungsunterlagen seitens der Klägerin nicht ausreichend dargelegt sei. Unabhängig davon stünde der Klägerin als Krankenkasse kein originärer Anspruch auf Übermittlung der streitgegenständlichen Unterlagen zu. Im Hinblick auf das Grundrecht des Patienten auf informationelle Selbstbestimmung könne daher das Einsichtsrecht in eine Behandlungsdokumentation nach § 116 Abs. 1 Satz 1 SGB V, §§ 401 Abs. 1 analog, 412 BGB nur dann auf den gesetzlichen Krankenversicherer übergehen, wenn eine Einwilligung des Patienten vorliegt. Eine solche liege jedoch nicht vor, und ist auch nicht entbehrlich, da gerade keine gesetzliche Grundlage für einen eigenen, originären Anspruch einer Krankenkasse auf Übermittlung der erforderlichen Unterlagen gegeben sei.
Die Entscheidung:
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist vollumfänglich begründet.
Der Klägerin steht gegen die Beklagte ein Anspruch auf Einsichtsrecht in die Behandlungsunterlagen der Patientin F nach § 116 Abs. 1 Satz 1 SGB X, § 401 Abs. 1 analog, § 412 BGB zu. Das Gericht schließt sich insoweit der Rechtsprechung des BGH aus dem Urteil vom 26.02.2013 (BGH VI ZR 359/11) an.
I.
1. Das Gericht geht zunächst davon aus, dass die Anforderungen an die Darlegung eines sachlichen Interesses für die beantragte Einsichtnahme seitens der Klägerin gewahrt sind. Tatsächlich hat die Klägerin lediglich vorgetragen, dass Anhaltspunkte für ein Verschulden der Mitarbeiter der Beklagten vorliegen und die Patientin F dadurch zu Schaden kam. Ohne Prüfung der Unterlagen der Beklagten kann jedoch aus Sicht des Gerichts die Klägerin schlechterdings keine weitergehenden Angaben machen, ohne ins Blaue hinein Vermutungen aufzustellen. Soweit geht auch das oben genannte Urteil (BGH VI ZR 359/11) davon aus, dass die Möglichkeit des Bestehens solcher Ansprüche genügt. So trägt die Klägerin vor, dass ihr ein Unfalldatum und die Örtlichkeit eines Sturzes der Patientin vorlägen, weitere Informationen habe sie auf Nachfrage jedoch von der Beklagten nicht erhalten.
2. Der BGH hat in der oben genannten Entscheidung (BGH VI ZR 359/11) dargelegt, unter welchen Voraussetzungen das Einsichtsrecht auf den Sozialversicherungsträger übergeht. Dies ist dann der Fall, wenn eine Einwilligung in die Einsichtnahme vorliegt (dies ist vorliegend unstreitig nicht der Fall) oder wenn das vermutete Einverständnis des Betroffenen anzunehmen ist. Insoweit führt der BGH in Randnummer 13 des Urteils vom 26.02.2013 wie folgt aus: „In Fällen, in denen die Entbindung von der Schweigepflicht dem Träger der gesetzlichen Krankenkassen die Verfolgung von Schadenersatzansprüchen [...] ermöglichen soll, wird regelmäßig davon auszugehen sein, dass die Offenlegung der Unterlagen gegenüber dem Krankenversicherer dem mutmaßlichen Willen des verstorbenen Heimbewohners entspricht.“. Diese Ansicht teilt auch das erkennende Gericht. Zu berücksichtigen ist vorliegend auch, dass keinerlei Anhaltspunkte dafür ersichtlich, noch dargetan sind, dass die zwischenzeitlich verstorbene Geschädigte Frau Einwände dagegen haben könnte, dass der behauptete Sturz, der gegebenenfalls von Mitarbeitern der Beklagten verursacht wurde, seitens ihrer Krankenkasse untersucht wird.
3. Das Gericht teilt auch die Ansicht der Klagepartei, dass eine Trennung zwischen Kranken- und Pflegeunterlagen denknotwendig nicht erfolgen kann, da diese insbesondere bei einer Behandlung im Krankenhaus aufeinander Bezug nehmen und in ihrer Gesamtheit die Unterlagen bezüglich des Patienten bilden. So ist aus Sicht des Gerichts das Informationsrecht des Patienten, sowie das auf die Krankenkasse übergangenen Recht nur dann gewährleistet, wenn umfangreich in sämtliche Unterlagen Einsicht genommen werden kann.
4. Das Gericht sieht im übrigen den Anwendungsbereich des neu eingeführten § 630g BGB als vorliegend nicht gegeben an. Dieser regelt das Einsichtnahmerecht des Patienten und den Übergang dieses Rechts auf bestimmte andere Personen. Die Ansicht der Beklagten, dass der neu eingeführte § 630g BGB die vorliegend streitgegenständliche Lücke betreffend des Einsichtsrecht des Sozialversicherungsträgers nach dem § 116 Abs. 1 Satz 1 SGB X, § 401 Abs. 1 analog, § 412 BGB geschlossen habe, sieht das Gericht so nicht. Es wäre anzunehmen, hätte der Gesetzgeber auch den Übergang des Einsichtsrechts auf Sozialversicherungsträger in dieser Vorschrift regeln wollen, dann wäre dies vorliegend auch zum Ausdruck gekommen. Tatsächlich hat sich der Gesetzgeber in § 630g BGB jedoch dazu entschlossen, lediglich den Übergang auf Angehörige des betroffenen Patienten zu beschränken.
II. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 91 ZPO, die der vorläufigen Vollstreckbarkeit aus § 709 ZPO.