In einem aktuellen Urteil hat der BGH für Strafsachen die Eigenverantwortung des Patienten betont und zugleich den Grundsatz, wonach der Arzt auf Grund seines überlegenen Wissens eine Handlungsherrschaft besitzt, aufgegeben (BGH, Beschluss vom 16.01.2014 (Az.: 1 StR 389/13).

Der Strafsenat des BGH hatte über folgenden Fall zu entscheiden:

Das Landgericht hat den Angeklagten, einen auf die Substitutionsbehandlung Rauschgiftsüchtiger spezialisierten Arzt, wegen zweier tatmehrheitlicher Fälle der Körperverletzung mit Todesfolge, jeweils in Tateinheit mit vorsätzlicher unerlaubter Abgabe von Betäubungsmitteln, sowie wegen weiterer 673 tatmehrheitlicher Fälle der unerlaubten Abgabe von Betäubungsmitteln zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt und zugleich ein Berufsverbot für die Dauer von vier Jahren sowie den Verfall von Wertersatz in Höhe von 11. 600 Euro angeordnet.

Im Kern ging es um die Frage, ob der Arzt kraft seines medizinischen Wissensvorsprungs dafür, dass ein Patient ihm übergebene opiathaltige Medikamente mißbräuchlich verwendet und verstirbt, strafrechtlich verantwortlich ist oder ob dies in die Eigenverantwortung des seit langem drogenabhängigen Patienten fällt.

Dahinter steht eine brisante Frage: Wieviel Eigenverantwortung ist dem Patienten zuzumuten? Oder mit anderen Worten: Inwiefern ist der Arzt für ein selbstbestimmtes Verhalten seines Patienten verantwortlich zu machen.

Dabei ist zu berücksichtigen, dass es bisher herrschende Meinung des BGH war, dass der Arzt, der auf Grund seines besseren medizinischen Wissens einen Erkenntnisvorsprung gegenüber dem Patienten besitzt, grundsätzlich für eine sogenannte Handlungsherrschaft besitzt (Entscheidung des 1. Strafsenats des BGH vom 18.07.1978 Az.: 1 StR 209/78).

Der BGH ist nun von dieser Doktrin abgewichen:

"Durch diesen verkürzten Maßstab hat sich die Strafkammer im Weiteren den Blick auf Umstände verstellt, die hinreichend adäquates Sachwissen auch des Geschädigten in Bezug auf das rechtsgutsbezogene Risiko seines Verhaltens nahelegten und daher der Erörterung bedurft hätten:

So verfügte der Geschädigte über eine lange Suchtkarriere und kannte die grundlegenden Risiken des Drogenkonsums einschließlich des Risikos einer Überdosierung (vgl. auch BGH, Urteil vom 29. April 2009 - 1 StR 518/08, BGHSt 53, 288 ff.; BayObLG, Beschlüsse vom 11. Dezember 2001 - "St RR 298/01, vom 14. Februar 1997 - 4St RR 4/97, NStZ 1997, 341, 342, und - zu einem insoweit anders gelagerten Fall - vom 28. August 2002 - "St RR 179/02, NJW 2003, 371). Auch hinsichtlich des von ihm konkret praktizierten Fentanyl- Missbrauchs legten die von der Strafkammer als glaubhaft erachteten Aussagen der Zeugen M., A. und H. es nahe, dass der Geschädigte sich der Risiken seines Handelns, insbesondere der Gefahr einer Überdosis aufgrund der Injektion, bewusst war.

Eines darüber hinaus gehenden Verständnisses der exakten medizinischen Wirkzusammenhänge zwischen der Einnahme des als bei Überdosierung als lebensgefährlich bekannten Opiats und den möglichen Auswirkungen auf das eigene Leben und die eigene körperliche Unversehrtheit bedurfte es demgegenüber nicht.

c) Auch unter dem Aspekt eines etwaigen Ausschlusses der Fähigkeit zu eigenverantwortlicher Entscheidung belegen die Ausführungen der Strafkammer keine Tatherrschaft des Angeklagten.

Auch hier hat die Strafkammer bereits den rechtlichen Maßstab verfehlt.
Ihre - für sich genommen rechtsfehlerfrei getroffene - Feststellung der Opiatabhängigkeit des Geschädigten führt nicht automatisch zum Ausschluss der Eigenverantwortlichkeit (vgl. auch BGH, Beschluss vom 9. November 2011 - 2 StR 427/11, NStZ-RR 2012, 71; Urteile vom 17. Juni 2010 - 4 StR 47/10, und vom 14. Februar 1984 - 1 StR 808/83, NStZ 1984, 410, 411 m. Anm. Roxin; sehr weitgehend demgegenüber noch BGH, Urteil vom 18. Juli 1978 - 1 StR 209/78, JR 1979, 429; Fischer, StGB, 61. Aufl., § 21 Rn. 13 mwN; ebenso für "Erfahrungen im Umgang mit Drogen" BGH, Beschluss vom 11. Januar 2011 - 5 StR 491/10; Urteil vom 11. April 2000 - 1 StR 638/99, BGHR StGB § 222 Zurechenbarkeit 2). Ein allgemeiner Erfahrungssatz, dass Betäubungsmittelkonsumenten zu eigenverantwortlicher Entscheidung nicht fähig sind, besteht nicht (s. a. BayObLG, Beschluss vom 11. Dezember 2001 - "St RR 298/01). Vielmehr bedarf es der Feststellung konkreter die Eigenverantwortlichkeit einschränkender Umstände, etwa einer akuten Intoxikation (vgl. BGH, Urteil vom 28. Oktober 1982 - 1 StR 501/82, NStZ 1983, 72), unter Umständen auch eines entzugsbedingten akuten Suchtdrucks, verbunden mit der Angst vor körperlichen Entzugserscheinungen (zu §§ 20, 21 StGB vgl. BGH, Urteile vom 2. November 2005 - 2 StR 389/05, NStZ 2006, 151; vom 6. Juni 1989 - 5 StR 175/89, BGHR StGB § 21 BtM-Auswirkungen 5; Beschluss vom 10. April 1990 - 4 StR 148/90, BGHR StGB § 21 BtM-Auswirkungen 7 jew. mwN) oder konsumbedingter schwerer Persönlichkeitsveränderungen, die zum Verlust der Eigenverantwortlichkeit führen können (zu §§ 20, 21 StGB vgl. BGH, Beschluss vom 9. November 2011 - 2 StR 427/11, StV 2012, 282; Urteil vom 17. Juni 2010 - 4 StR 47/10).

Solche Feststellungen hat die Strafkammer jedoch nicht getroffen.

Soweit dem Urteil des Senats vom 18. Juli 1978 (1 StR 209/78, JR 1979, 429) über die Besonderheiten des dortigen konkreten Falles hinaus allgemein die Rechtsauffassung entnommen werden könnte, die aus der Behandlung eines opiatabhängigen Patienten resultierende Garantenpflicht des behandelnden Substitutionsarztes begründe eine "besondere Sorgfaltspflicht" des Arztes, Schaden von seinem Patienten abzuwenden, und führe - unabhängig von der Freiverantwortlichkeit des Patienten - stets zu einer Täterschaft begründenden Herrschaft des Arztes über das selbstschädigende Verhalten des Patienten, wäre daran nicht festzuhalten."

Der BGH verwies die Sache zwecks weiterer Ermittlungen bezüglich des individuellen Erkenntnisstandes des verstorbenen Patienten zurück an die Vorinstanz.

Hinweis:

Das Urteil reiht sich ein in mehrere Entscheidungen, die zunehmend die Eigenverantwortung des Patienten in den Vordergrund stellen. Von der Doktrin, wonach sich aus dem Behandlungsvertrag „besondere Sorgfaltspflichten“ des Arztes ergäben, die das Selbstbestimmungsrecht des Patienten überlagerten, ist der BGH abgewichen.

Auch für zivilrechtliche Haftungsfälle kann dies von Bedeutung sein. Es bleibt abzuwarten, ob auch die Zivilgerichte den Patienten nunmehr stärker in die Verantwortung nehmen. Dies wird aber wohl nur bei offensichtlichen und damit auch dem durchschnittlichen Patienten verständlichen und bekannten medizinischen Fragen der Fall sein können.

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht Philip Christmann
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