Wann kann ein Kinderarzt den Verdacht eines Missbrauches eines Kindes den Jugendämtern melden ohne dabei gegen seine ärztliche Schweigepflicht zu verstoßen? Und wann muss er einen Mißbrauchsverdacht öffentlich machen, um sich nicht wegen Unterlassung strafbar zu machen? 

Schutz der Kinder vor Missbrauch und MißhandluungenRecht zur Offenbarung

Die Rechte des Arztes werden im Bundeskinderschutzgesetz (KKG) vom 1.1.2012 geregelt.

Im wesentliche geht es dort um den Konflikt zwischen ärztlicher Schweigepflicht (§ 9 MBO, § 203 StGB) und dem Schutz der körperlichen Unversehrtheit des Kindes als Patienten.

Der den Missbrauch z.B. gegenüber dem Jugendamt offenbarende Arzt kann sich zu seiner Rechtfertigung unter bestimmten Voraussetzungen auf § 34 StGB stützen (auf den sog. rechtfertigenden Notstand). Dies erfordert eine Wiederholungsgefahr, also die Gefahr eines weiteren Missbrauchs. Allein das Interesse an der Verfolgung des bereits erfolgten Missbrauchs reicht zur Rechtfertigung des Bruchs der ärztlichen Schweigepflicht nicht aus. Bei innerfamiliären Tätern ist die Wiederholungsgefahr allerdings regelmäßig zu bejahen. Dies kann bereits mit der erheblichen Möglichkeit zur ungestörten Tatwiederholung als auch mit der günstigen Tatgelegenheit oder mit einer möglicherweise vorliegenden besonderen sexuellen Neigung des Täters begründet werden. Der abstrakte Hinweis des Arztes, dass Kindesmißbrauch typischerweise eine Wiederholungstat ist, reicht dagegen nicht aus. Sieht der Arzt sich wiederholende Verletzungsmuster, ist dies ein starkes Indiz für eine Wiederholung. Hier ist dem Arzt zu raten, die Verletzungen auch fotografisch zu dokumentieren.  

Checkliste:

Arzt darf vermuteten Mißbrauch anzeigen, wenn: 

  • keine milderen Maßnahmen als Offenbarung erkennbar oder mildere Maßnahmen haben nicht abgeholfen (als mildere Maßnahmen kommen in Betracht: Aktivierung der Eigenverantwortung durch Gespräch mit den Eltern, Angebot einer Therapie an den möglichen Täter/Täterin, Unterbindung des Kontaktes des Kindes mit dem externen Täter/Täterin durch Information der Eltern
  • erhebliche Gefahr der Beeinträchtigung für Leib, Leben oder Psyche des Kindes ist gegeben
  • Abschreckung der Täter/Täterin bereits durch Mitteilung des Verdachtes der Misshandlung durch den Arzt gegenüber den Eltern möglich? (Stichwort: Öffentlichmachung des Missbrauchs bereits durch Mitteilung des Verdacht des Arztes)
  • sobald dies nicht abhilft und sieht der Arzt weiterhin eine Gefährdung des Wohls des Kindes, so ist er nach § 4 Absatz 1 Nr. 1 KGG zur Information des Jugendamtes berechtigt  
  • Offenbarung zuerst an das Jugendamt statt an Polizei und/oder Staatsanwaltschaft
  • bei aggressiven Tätern: es muss vermieden werden, dass das Kind nach einer Offenbarung dem Täter schutzlos ausgeliefert ist
  • je schwerer die Misshandlung ist, desto eher ist der Arzt zur Offenbarung befugt

Pflicht zur Offenbarung

Das Gesetz sieht eine allgemeine Offenbarungspflicht nicht vor.

Der Arzt kann sich aber nach §§ 221 Absatz 1 Nr. 2 (sog. Aussetzung) und §§ 223/229, 13 (Körperverletzung durch Unterlassen) StGB strafbar machten, wenn er eine Offenbarung unterlässt und dadurch das Kind zu Schaden kommt.

Ganz maßgeblich ist hier aber die medizinisch-fachliche Einschätzung des Arztes hinsichtlich Schwere der Verletzung, der weiter zu befürchtenden Verletzungen, der Handlungsalternativen und der Erforderlichkeit einer Offenbarung. Eine sog. diagnostische Sicherheit wird in diesen Fällen in der Regel aber nicht vorliegen. Dies entlastet den Arzt. Irrt sich der Arzt hier über Inhalt und Grenzen der Schweigepflicht - etwa indem er irrig annimmt, zur Offenbarung nicht berechtigt gewesen zu sein - so führt dies zu einem Verbotsirrtum, der aufgrund der komplexen Rechtslage zu einer Straffreiheit führt.

Der Arzt besitzt bei alledem einen weiten Ermessensspielraum. Dieses Ermessen steht dem Arzt sowohl bezüglich der Frage der Offenbarungsrechtes als auch der Offenbarungspflicht zur Verfügung. Sowohl der Kinderarzt, der ein strafrechtliche Verfolgung wegen Nichtanzeige eines Missbrauches fürchtet, als auch der Kinderarzt, der plant, einen solchen Missbrauch anzuzeigen, sollte dieses Ermessen ausüben und - was von entscheidender Bedeutung ist - dieses Ermessen auch schriftlich in der Behandlungsakte nachvollziehbar machen. Dazu kann er etwa dort eine Notiz niederlegen, die zumindest stichpunktartig die beim Für und Wider berücksichtigten Punkte auflistet und das Ergebnis der Abwägung schriftlich dokumentiert.

Mit einem solchen Vermerk in der Akte kann der Arzt sowohl seine Entscheidung für ein Tätigwerden wie gegen ein Tätigwerden beweissicher darlegen. Er kann sich dann auch noch Jahre später auf diese Unterlagen berufen. Erfahrungsgemäß wird kein Gericht sich dem so ausgeübten und begründeten Ermessen des Arztes, das eine Momententscheidung beinhaltet, entgegenstellen. Es ist die Natur einer Ermessensentscheidung, dass sie individuell und persönlich ist. In Schwierigkeiten kann der Arzt dagegen gelangen, der seine Entscheidung im Nachhinein nicht mehr plausibel nachvollziehen und begründen kann. Eine schriftliche Fixierung der wesentlichen Gesichtspunkte und des Ergebnisses der Ermessentscheidung ist daher für den Arzt unumgänglich.

Fazit:

Im Zweifel sollte der Arzt Mißbrauchsfälle zuerst mit den Angehörigen besprechen und - soweit die Verletzungen wieder auftauchen - dem Jugendamt anzeigen. Es ist nicht zu erwarten, dass dies zu einer Strafbarkeit wegen Geheimnisverrates bzw. des Bruches der Schweigepflicht führt. Auf der anderen Seite muss der Arzt, der von einer Offenbarung absieht und diese Entscheidung nachvollziehbar dokumentiert hat, regelmäßig keine Strafe fürchten.

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht Philip Christmann
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