Die Eigendiagnose eines sachkundigen Patienten darf der Arzt nicht ohne weiteres seiner Diagnose zu Grunde legen. Der sachkundige Patient darf nicht nachlässiger behandelt werden als ein normaler Patient (OLG Koblenz, Beschluß vom 30.01.12 - 5 U 857/11 -).

Leitsätze:

1. Versäumt es ein Orthopäde, den Beginn der akuten Beschwerden (außergewöhnlich starke Schmerzen der linken Körperseite) zu erfragen, was ihn zu der Fehlvorstellung verleitet, die gebotene internistische Abklärung sei bereits erfolgt, kann auch die versäumte Befunderhebung auf diesem Fachgebiet die Beweislast zu Gunsten des Patienten umkehren.

2. Laienhaften Eigendiagnosen und Medikationswünschen des Patienten hat der Arzt mit kritischer Distanz zu begegnen. Auch eine scheinbare Sachkunde des Patienten enthebt den Arzt nicht der Verpflichtung, eigenverantwortlich sämtliche objektiven Befunde zu erheben und dabei auch eine Erkrankung außerhalb seines Fachgebiets (hier: Herzinfarkt) in Betracht zu ziehen.

Aus dem Urteil:

1. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil der 2. Zivilkammer des Landgerichts Mainz  vom 21. Juni 2011 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass  Ziffer 1. des Tenors der Entscheidung des Landgerichts zur Klarstellung wie folgt gefasst wird:

a. Das Zahlungsverlangen aller drei Kläger ist dem Grunde nach gerechtfertigt.

b. Es wird festgestellt, dass der Beklagte verpflichtet ist,  allen drei Klägern einen weiteren Unterhaltsschaden zu ersetzen, der aus der ärztlichen Fehlbehandlung  des ...[A] am 18. Mai 2007 entsteht, soweit der Schaden nicht von den bezifferten Leistungsanträgen 1. und 2. erfasst ist.

2. Der Beklagte hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.

3. Das angefochtene Urteil und der Senatsbeschluss sind ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Leistung einer Sicherheit von 110% des jeweils beizutreibenden Betrages abwenden, sofern die Kläger nicht vor der Vollstreckung eine entsprechende Sicherheit leisten.

4. Der Streitwert des Berufungsverfahrens wird unter Änderung des Senatsbeschlusses vom 23. November 2011 auf 348.525,34 € festgesetzt.
 
G r ü n d e

Der Senat ist einstimmig davon überzeugt, dass

1.    die Berufung offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat,

2.    die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat,

3.   die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts durch Urteil nicht erfordert und

4. eine mündliche Verhandlung nicht geboten ist.
 
Tatbestand:
I.
Die Kläger sind die Ehefrau und die beiden minderjährigen Kinder des 1971 geborenen und am 18. Mai 2007 an einem Herzinfarkt verstorbenen ...[A]. Seinen Tod lasten die Anspruchsteller dem beklagten Orthopäden an, der den Patient in den Nachmittagsstunden des 18. Mai 2007 ab etwa 16.00 Uhr im Universitätsklinikum in …[X] untersuchte und behandelte. Dorthin war der Patient, selbst Rettungssanitäter von Beruf, von zwei Kollegen mit dem Krankenwagen unter Einsatz von Blaulicht und Martinshorn transportiert worden. Dabei äußerte er den Verdacht, die außergewöhnlich starken Schmerzen der linken Körperseite beruhten – ähnlich wie im Oktober des Vorjahres – auf der Einklemmung eines Nervs im Bereich der Halswirbelsäule. Gleiches berichtete er auch dem Beklagten und erwähnte, das Ganze sei bereits internistisch abgeklärt. Damit meinte der Patient eine im Vorjahr erfolgte internistische Befunderhebung, während der Beklagte davon ausging, die internistische Untersuchung sei am 18. Mai 2007 erfolgt. Der Beklagte diagnostizierte eine Querwirbelblockade und eine Muskelverspannung und entließ den Patienten gegen 16.40 Uhr nach Hause, wohin er wiederum mit dem Krankenwagen transportiert wurde. Gegen 18.00 Uhr fand ihn die Ehefrau im Bad bewusstlos auf dem Boden liegend. Der herbeigerufene Notarzt stellte nach vergeblichen Widerbelebungsversuchen gegen 19.00 Uhr den Tod fest.

Die von der Staatsanwaltschaft veranlasste Obduktion ergab, dass der Verstorbene ältere Herzmuskelinfarkte im Bereich der Kammerrückwand links zur Herzspitze und zur Kammerscheidewand erlitten hatte. Daneben stellte der Rechtsmediziner Zeichen frischer Herzmuskeluntergänge im Bereich des alten Herzmuskelinfarktbezirkes fest. Todesursächlich war ein akuter vollständiger Verschluss der rechten Herzkranzarterie.

Wegen versäumter Abklärung des internistischen Befundes ist gegen den Beklagten durch rechtskräftigen Strafbefehl auf eine Geldstrafe von 90 Tagessätzen erkannt worden. Der Schuldspruch lautet auf fahrlässige Tötung.

Alle drei Kläger begehren materiellen Schadensersatz. Daneben macht die klagende Ehefrau als Alleinerbin des Verstorbenen dessen Schmerzensgeldanspruch geltend. Letztlich begehren die Kläger die Feststellung der Ersatzpflicht des Beklagten für Unterhaltsschäden, soweit diese nicht von den bezifferten Leistungsanträgen umfasst sind.

Dem ist der Beklagte entgegengetreten. Die von ihm gestellte Diagnose sei aufgrund der Schilderung der Vorgeschichte und der aktuell vom Patienten geklagten Beschwerden vertretbar gewesen. Das zur Sprache gekommene EKG und die internistische Untersuchung habe er nicht dem Jahr 2006 zugeordnet und auch nicht zuordnen müssen.

Das sachverständig beratene Landgericht hat Zeugenbeweis erhoben und den Beklagten angehört (§ 141 ZPO). Daneben hat es die Erkenntnisse aus dem Strafverfahren verwertet und dessen Akten zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht. Danach hat es durch das angefochtene Teil- und Grundurteil festgestellt, dass der Beklagte dem Grunde nach für sämtliche materiellen und immateriellen Schäden der Kläger hafte. Das Beschwerdebild am 18. Mai 2007 habe eine internistische Abklärung erfordert. Diese zu veranlassen, sei Sache des Beklagten gewesen. Nach den Erläuterungen der beiden Sachverständigen müsse das Versäumnis des Beklagten als grober Behandlungsfehler gewertet werden. Das führe zu einer Umkehr der Beweislast bei der Kausalität. Den Entlastungsbeweis habe der Beklagte aber nicht geführt.

Mit seiner Berufung erstrebt der Beklagte die Abweisung der Klage. Er hält für nicht hinreichend geklärt, welche Angaben der Patient ihm gegenüber am Untersuchungstag gemacht habe. Jedenfalls seien diese Erklärungen in einer ihm  nicht vorzuwerfenden Weise irreführend mit einer dem Patienten selbst anzulastenden Blickverengung auf ein vermeintlich orthopädisches Problem gewesen. Weiter bezweifelt die Berufung die Kompetenz der beiden befragten Sachverständigen und meint, der Antrag auf Einholung eines fachorthopädischen Gutachtens sei verfahrensfehlerhaft übergangen worden. Dementsprechend entbehre die Auffassung des Landgerichts, dem Beklagten sei ein grober Behandlungsfehler unterlaufen,  einer tragfähigen Beweis- und medizinischen Faktengrundlage.  Der Beweisbehauptung, der Patient habe – das vom Landgericht vermisste ärztliche Handeln hinzugedacht – keine realistische Überlebenschance gehabt, sei  durch ergänzende Sachaufklärung nachzugehen.

Die Kläger verteidigen die Entscheidung des Landgerichts.  Auch sie wiederholen, vertiefen und ergänzen ihr erstinstanzliches Vorbringen.

Wegen der weiteren Einzelheiten nimmt der Senat auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil ebenso Bezug wie auf den Inhalt der Strafakten 3652 Js 28306/07 – 405 Cs Staatsanwaltschaft Mainz.

Begründung                                                              
II.
Die zulässige Berufung ist offensichtlich unbegründet.

1. Sie führt lediglich zu einer klarstellenden Neufassung des missverständlich formulierten Tenors der Entscheidung des Landgerichts. Über den von allen drei Klägern formulierten Feststellungsantrag durfte nicht durch Grundurteil entschieden werden. Indes belegen die Bezeichnung des angefochtenen Urteils als „Teil- und Grundurteil“ im Zusammenhang mit den Entscheidungsgründen, dass das Landgericht nur das Zahlungsverlangen dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt und dem daneben formulierten Feststellungsantrag umfassend stattgegeben hat. Der Senat hat das seinerseits durch eine Neufassung des Tenors verdeutlicht.

2. Allerdings darf bei Geltendmachung mehrerer Ansprüche ein Grundurteil nur ergehen, wenn für das Bestehen eines jeden Anspruchs hinreichende Anhaltspunkte gegeben sind (BGH VI ZR 8/57). Die Berufung meint (BB Seite 12 – Bl. 299 GA), für einen auf die Klägerin zu 1. als Alleinerbin übergegangenen Schmerzensgeldanspruch des Verstorbenen bestehe keinerlei Anhalt.

An dieser Überlegung ist richtig, dass ein Grundurteil nicht statthaft ist, soweit  bereits feststeht, dass einer von mehreren Klageansprüchen nicht besteht. Durch Grundurteil kann in einem derartigen Fall nur hinsichtlich der im Einzelnen begründeten Forderungen entschieden werden; im Übrigen muss die Klage durch Teilurteil abgewiesen werden (vgl. BGH  VI ZR 37/82 mit zahlreichen weiteren Nachweisen).

Der Berufung kann aber nicht darin gefolgt werden, die Klägerin zu 1.  habe einen Schmerzensgeldanspruch des Verstorbenen nicht dargetan. Mag das Schmerzensgeld auch nicht annähernd den mit der Klage geltend gemachten Umfang haben, weil der Geschädigte das schadensursächliche Versäumnis nur kurze Zeit überlebte, ist der Anspruch doch dem Grunde nach gegeben. Denn die gebotene unverzügliche inter-nistische Befunderhebung hätte binnen einer halben Stunde zu einer Diagnose auf diesem Fachgebiet geführt (Sachverständiger Prof. Dr. ...[B] bei seiner mündlichen Anhörung – Bl. 187 GA). Dass die daran anknüpfende unverzügliche Krisenintervention die Schmerzen des Patienten in dem Zeitfenster bis zur Feststellung des Todes gelindert, wenn nicht gar beseitigt hätte, steht für den Senat außer Zweifel.

3. Soweit die Berufung rügt, das Landgericht habe allen drei Klägern einen nur von der Klägerin zu 1 geltend gemachten immateriellen Schadensersatzanspruch dem Grunde nach zuerkannt (Verstoß gegen § 308 Abs. 1 ZPO),  ist durch die vom Senat vorgenommene Klarstellung des Tenors hinreichend verdeutlicht, dass nur das jeweilige   Zahlungsverlangen der drei Kläger gemeint ist. Das hat auch das Landgericht nicht anders gesehen, was sich aus dem Gesamtzusammenhang der Entscheidungsgründe erschließt.

4. Auch Im Übrigen hält das angefochtene Urteil den Berufungsangriffen stand:

a. Die Entscheidung des Landgerichts nennt zwar keine Anspruchsgrundlage. Das insoweit Versäumte kann der Senat aber nachholen. Der Beklagte ist allen drei Klägern schadensersatz- und unterhaltspflichtig nach § 823 Abs. 1 BGB, § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 222 StGB, 844, 845 BGB.  Der nach § 253 Abs. 2 BGB entstandene Schmerzensgeldanspruch des Verstorbenen ist nach § 1922 Abs. 1 BGB auf die Klägerin zu 1 als Alleinerbin übergegangen.

Dem Beklagten ist ein Befunderhebungsversäumnis unterlaufen. Wäre die gebotene alsbaldige internistische Befunderhebung erfolgt, hätte sie einen infarktbedingten Untergang der Herzbeutelmuskulatur zutage gefördert. Die daran anknüpfende unverzügliche kardiologische und internistische Krisenintervention hätte das Leben des Patienten mit hoher Wahrscheinlichkeit gerettet.

Die Berufung sieht das anders und meint, aufgrund des mit der Klinik geschlossenen Behandlungsvertrages sei der Beklagte als deren Erfüllungs- und Verrichtungsgehilfe lediglich verpflichtet gewesen, entsprechend dem ausdrücklichen Wunsch des Patienten eine Befunderhebung und Behandlung nur auf seinem orthopädischen Fachgebiet vorzunehmen.

Dem kann nicht gefolgt werden. Richtig ist zwar, dass das selbstbewusste und vermeintlich sachkundige Auftreten des Patienten, der nicht nur die auf einer CD – ROM gespeicherten (veralteten) Befundbilder eines orthopädischen Problems der Wirbelsäule, sondern darüber hinaus eine scheinbar plausible Eigendiagnose präsentierte, in die Irre führen konnte. Daraus lässt sich aber in rechtlicher Hinsicht nicht ableiten, eine ausschließlich orthopädische Befunderhebung und Diagnose sei Inhalt des Behandlungsvertrages geworden. Eine derart verengte, einseitige Sicht der Dinge geht an dem ganz selbstverständlichen Wunsch eines jeden Patienten vorbei, dass alles zur Erforschung und Behebung  seiner Erkrankung Erforderliche getan wird, und zwar ungeachtet der jeweiligen Spezialisierung des befragten Arztes. Damit ist der konsultierte Spezialist auch nicht in einer außerhalb seiner Vertragspflichten liegenden Weise überfordert. Ihm wird nämlich nicht abverlangt, auch in einem fremden Fachgebiet sachkundig tätig zu werden. Er hat jedoch die ganz selbstverständliche Pflicht, selbstkritisch die Grenzen seiner eigenen Erkenntnismöglichkeiten auf dem jeweiligen Fachgebiet zu erkennen und zu erwägen, dass angesichts der mannigfachen denkbaren Ursachen für eine Erkrankung oder Beschwerdesymptomatik der Arzt einer anderen Fachrichtung hinzugezogen werden muss.

Der Senat sieht sich in dieser seit jeher vertretenen Sicht der Dinge durch die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 21. Dezember 2010 (VI ZR 284/09) bestärkt. Danach hat der für die Auswertung eines Befundes im konkreten Fall medizinisch verantwortliche Arzt alle die Auffälligkeiten zur Kenntnis und zum Anlass für die gebotenen Maßnahmen zu nehmen, die er aus berufsfachlicher Sicht seines Fachbereichs unter Berücksichtigung der in seinem Fachbereich vorausgesetzten Kenntnisse und Fähigkeiten sowie der Behandlungssituation feststellen muss. Vor in diesem Sinne für ihn erkennbaren "Zufallsbefunden" darf er nicht die Augen verschließen, mögen sie auch ein anderes medizinisches Fachgebiet betreffen.

b. Gemessen daran ergibt sich hier in medizinischer Hinsicht folgendes:

Grundlage jeden ärztlichen Handelns muss die sorgfältige Anamnese sein. Daran fehlt es. Der Senat entnimmt den Strafakten, dass der Patient am 18. Mai 2007 nicht arbeiten musste, sondern sich bis in die frühen Nachmittagsstunden zu Hause aufhielt. Erstmals gegen 15.30 Uhr klagte er gegenüber seiner Ehefrau über starke Schmerzen der linken Körperseite (Bl. 37 der Strafakten). Das führte zum alsbaldigen Transport in die Universitätsmedizin.

Dort war der Beklagte zunächst verpflichtet, den Patient zu fragen, wann die akuten, von Herrn ...[A] als unerträglich beschriebenen Schmerzen an diesem Tag erstmals aufgetreten waren. Der Beklagte hätte dann erfahren, dass die Schmerzsymptomatik erstmals vor knapp einer Stunde aufgetreten war. Daraus ergab sich ohne Weiteres, dass eine internistische Abklärung dieses Befundes nicht erfolgt sein konnte.

Das Erfordernis einer derartigen Abklärung hat der Beklagte am Untersuchungstag aber gesehen. Bei seiner kriminalpolizeilichen Vernehmung am 6. Juni 2007 hat er nämlich unter anderem Folgendes erklärt:

„Irgendwann während des Patientengesprächs, den genauen Zeitpunkt kann ich nicht sagen, sprach der Patient auch an, dass er wegen dieser Schmerzen schon internistisch abgeklärt wäre. Ich habe aber nicht mehr dezidiert nachgefragt, ob dies auch an diesem Tag erfolgt ist. Ich hatte es so verstanden, dass diese internistische Abklärung zeitnah an diesem 18.05.2007 erfolgt war“.

Das kann der Senat nicht nachvollziehen. Auf der am 18. Mai 2007 vom Patient mitgeführten CD – ROM waren Bilder einer im Jahr 2006 erfolgten orthopädischen Befunderhebung gespeichert. Derart veraltete Bilder konnten allenfalls für einen Befundvergleich von Bedeutung sein. Indes wurde eine neuerliche Bildgebung vom Beklagten nicht als erforderlich angesehen und auch nicht veranlasst. Welchen Erkenntnisgewinn zur sachgemäßen medizinischen Einschätzung der aktuellen, schlagartig eine Stunde zuvor entstandenen Schmerzsymptomatik der Beklagte sich vom Betrachten der alten Auf-nahmen versprach, hat er nicht mitgeteilt und erschließt sich auch nicht aus den Sachverständigengutachten.

Jedenfalls durfte dem Beklagten nicht verborgen bleiben, dass der wortreiche, von dem Wunsch nach alsbaldiger Linderung der unerträglichen Schmerzen geprägte Bericht des Patienten über lange zurückliegende Untersuchungen, keinen Bezug zur aktuellen Beschwerdesymptomatik haben konnte. Dabei wird nicht verkannt, dass das von Zeugen mit dem Wort „Toben“ umschriebene Verhalten des Patienten beim Beklagten erheblichen Handlungsdruck hervorrufen konnte und wohl auch hervorgerufen hat. Gerade in einer derartigen Situation muss jedoch von einem Arzt erwartet werden, dass er besonnen bleibt, wozu auch gehört, die scheinbar sachkundige Eigendiagnose eines derart verhaltensauffälligen Patienten besonders kritisch zu hinterfragen.

Wäre der Beklagte dieser Verpflichtung nachgekommen, hätte die ergänzende Befragung des Patienten ergeben, dass die aktuelle Beschwerdesymptomatik mit jener des Oktobers 2006 nicht durch irgendwelche Brückensymptome verbunden, sondern erst eine Stunde zuvor unter Umständen aufgetreten war, die nicht ohne Weiteres an ein orthopädisches Problem denken ließen (Verheben, Verrenken etc.). Damit lag das Erfordernis einer ergänzenden internistischen Abklärung offen zutage. Denn die vom Patienten angesprochene Untersuchung lag viele Monate zurück und war daher für die Akutbeschwerden ohne jede Bedeutung. Die Erklärung des Patienten zu der „internistischen Untersuchung“ hätte der Beklagte nicht zeitlich derart falsch eingeordnet, wenn er zu Beginn der Untersuchung erfragt hätte, wann an diesem Tag die starken Schmerzen in der linken Körperhälfte erstmals aufgetreten waren.

c. Dass der Beklagte die zeitnah gebotene internistische Untersuchung nicht veranlasst hat, ist vom Landgericht als grober Behandlungsfehler angesehen worden. Dieses harsche Urteil hält der Senat angesichts der Besonderheiten des vorliegenden Falls für überzogen. In die wertende Gesamtschau des Versäumnisses des Beklagten muss nämlich einbezogen werden, dass das außerordentlich selbstbewusste und von angeblicher Sachkunde geprägte Verhalten des Patienten den Blick auf die wahre Schmerzursache verstellen konnte. Deren konkrete Abklärung und die internistische Weiterbehandlung oblagen zudem nicht dem Beklagten als Orthopäden, so dass sich schwerlich von einem Behandlungsfehler sprechen lässt.

d. Gleichwohl erweist sich die Entscheidung des Landgerichts auch an dieser Stelle als im Ergebnis zutreffend.  Aus den dargestellten Gründen ist dem Beklagten nämlich eine unzureichende Anamnese und daran abknüpfend das Versäumnis anzulasten, nicht für eine internistische Befunderhebung gesorgt zu haben.

Bei der Unterlassung einer gebotenen Befunderhebung erfolgt eine Beweislastumkehr hinsichtlich der haftungsbegründenden Kausalität, wenn bereits die Unterlassung einer aus medizinischer Sicht gebotenen Befunderhebung ein grobes ärztliches Versäumnis darstellt (vgl. BGHZ 138, 1, 5 f.; BGH VersR 2010, 115 m.w.N.). Zudem kann auch eine nicht grob fehlerhafte Unterlassung der Befunderhebung dann zu einer Umkehr der Beweislast hinsichtlich der Kausalität des Behandlungsfehlers für den eingetretenen Gesundheitsschaden führen, wenn sich bei der gebotenen Abklärung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein reaktionspflichtiges positives Ergebnis gezeigt hätte und sich die Verkennung dieses Befundes als fundamental oder die Nichtreaktion hierauf als grob fehlerhaft darstellen würde (vgl. BGH in BGHZ 132, 47, 52 ff. und BGHZ 159, 48, 56 sowie in VersR 2004, 790, 791 f und NJW 2011, 2508). In einem derartigen Fall führt bereits das - nicht grob fehlerhafte - Unterlassen der gebotenen Befunderhebung wie ein grober Behandlungsfehler zu erheblichen Aufklärungsschwierigkeiten hinsichtlich des Kausalverlaufs. Es verhindert die Entdeckung des wahrscheinlich gravierenden Befundes und eine entsprechende Reaktion darauf mit der Folge, dass hierdurch das Spektrum der für die Schädigung des Patienten in Betracht kommenden Ursachen besonders verbreitert oder verschoben wird (vgl. BGH in BGHZ 85, 212, 216 und BGHZ 99, 391, 395). Die Vermutung greift immer dann, wenn der Befund, wäre er erhoben worden, ein positives Ergebnis im behaupteten Sinne gehabt hätte. Dabei reicht eine hinreichende Wahrscheinlichkeit aus (BGHZ 132, 47; 138, 1, 4; BGH in VersR 1998, 585, 586 und VersR 1999, 231, 232).

Dass Letzteres der Fall war, hat das sachverständig beratene Landgericht in nicht zu beanstandender Weise festgestellt. Darauf wird statt Wiederholung verwiesen. Entgegen dem Berufungsvorbringen fallen die insoweit maßgeblichen medizinischen Fragen auch nicht in das Fachgebiet eines Orthopäden; sie sind vielmehr von einem Internisten oder Kardiologen zu beantworten. Zu Recht hat das Landgericht daher davon abgesehen, einen Orthopäden zu befragen.

e. Die Berufung dringt auch nicht mit dem Einwand durch, der Patient sei todgeweiht gewesen und daher auch bei pflichtgemäßem Handeln des Beklagten gestorben. Dazu haben die befragten Sachverständigen alles Erforderliche gesagt. Der dem Beklagten obliegende Entlastungsbeweis (vgl. BGH in VersR 1989, 80, 81) ist damit nicht geführt.

Dabei wird nicht verkannt, dass nur wenig Zeit verstrich zwischen dem Abschluss der Untersuchung durch den Beklagten und dem Tod des Patienten. Die allesamt ortskundigen Senatsmitglieder wissen jedoch, dass es von der Orthopädie der Universitätsmedizin in die innere Abteilung und in die Kardiologie nur wenige Schritte sind, so dass bei sachgemäßem Vorgehen des Beklagten mit alsbaldiger Krisenintervention durch einen auf die Behandlung akuter Herzerkrankungen spezialisierten Facharzt zu rechnen war.

f. Letztlich fehlt es auch nicht am Verschulden. Die Erwägung der Berufung, durch die vermeintliche berufsbedingte Sachkunde des Patienten (Rettungssanitäter) und dessen Wunsch nach alsbaldiger Applikation einer schmerzlindernden Spritze habe der Beklagte sich entschuldigt auf eine falsche Fährte locken lassen, verkennt, dass jeder Arzt die laienhaften „Diagnosen“, erst Recht jedoch Medikationswünsche eines Patienten mit kritischer Distanz aufnehmen muss, um sodann eigenverantwortlich sämtliche objektiven Befunde zu erheben und diese nicht nur unter dem möglicherweise verengten Blickwinkel seines eigenen Fachgebietes zu deuten. Mit ihren abweichenden Überlegungen unternimmt die Berufung den untauglichen Versuch, die Verantwortlichkeit für das weitere Geschehen dem Verstorbenen zuzuweisen. Dass auch bei einem relativ jungen Patienten nicht dessen Alter, sondern die konkrete Beschwerdesymptomatik Richtschnur des ärztlichen Handelns sein muss, steht für den Senat außer Zweifel (vgl. zum Herzinfarkt eines 34 – jährigen Mannes den Sachverhalt der Entscheidung des BGH vom 16.10.2007 – VI ZR 229/06 – in VersR 2008, 221).

5. Nach alledem musste die Berufung mit den Nebenentscheidungen aus §§ 97 Abs. 1, 708 Nr. 10, 711 ZPO durch Beschluss zurückgewiesen werden.

Zu welchem neuen Erkenntnisgewinn eine mündliche Verhandlung führen könnte, ist nicht zu ersehen und auch nicht dargetan.

Anmerkung:

Die Entscheidung führt dem Arzt vor Augen, dass im Zweifel eher ein Mehr an Diagnostik geboten ist. Der Patient auf der anderen Seite sollte sich vor Eigendiagnosen hüten, weil sie den Arzt von weiteren Untersuchungen abhalten können. Wieder einmal haben Kommunikationsprobleme zwischen Arzt und Patient zu erheblichen Schäden geführt. Es ist zu hoffen, dass sich Arzt und Patient bei den so wichtigen anamnestischen Erstgespräch mehr Zeit für ein Kennernlernen und den Austausch der wichtigsten Informationen nehmen.

Das OLG sieht hier keinen groben Behandlungsfehler, sondern "nur" einen Befunderhebungsfehler (der im Ergebnis aber auch zu einer Beweislastumkehr zu Gunsten des Patienten führt). Damit trägt das Gericht dem Umstand Rechnung, dass der Arzt von dem Patienten fehlerhafte Angaben erhielt. 

Das OLG vertritt die Auffassung, dass ein Arzt unabhängig von seinem Fachgebiet gegenüber dem Patienten verpflichtet sei, alles zur Erforschung und Behebung einer Erkrankung Erforderliche zu unternehmen (sog. Pflicht zur Befunderhebung). Jeder Arzt müsse laienhafte „Diagnosen“ mit kritischer Distanz aufnehmen, um dann eigenverantwortlich sämtliche objektive Befunde zu erheben. Daher sei der Arzt verpflichtet gewesen, die Ursache der starken Schmerzen genauer zu ermitteln und deem Patienten weitere Fragen zu stellen. Hätte er dies getan, hätte er erfahren, dass die Schmerzen erstmalig vor einer Stunde aufgetreten waren. Es wäre dann ohne weiteres herausgekommen, dass der Patient zu den akuten Beschwerden keine aktuelle internistische ärztliche Beratung erhalten hatte. Es wäre klar gewesen, dass die Symptome ergänzend durch einen Internisten hätten abgeklärt werden müssen. Diese Untersuchungen hätten einen infarktbedingten Untergang der Herzbeutelmuskulatur gezeigt und die daran anknüpfende unverzügliche kardiologische Behandlung hätte dem Patienten mit hoher Wahrscheinlichkeit das Leben gerettet.

Die Entscheidung ist richtig. Kommt ein Patient mit dem Rettungswagen zum Arzt und gibt er unerträgliche Schmerzen an und tobt herum, so muss der Arzt zuerst fragen, wann die Beschwerden erstmalig aufgetreten sind. Diese Frage zu unterlassen stellt einen Bedfunderhebungsfehler dar. Denn die Frage nach dem ersten Auftreten der Beschwerden ist eine der Kardinalsfragen der ärztlichen Untersuchung. 

Die Revision ist anhängig zum BGH unter dem Aktenzeichen VI ZR 99/12

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht Philip Christmann
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