Ist eine Schnittentbindung aufgrund besonderer Umstände relativ indiziert und ist sie deshalb eine echte Alternative zu einer vaginal-operativen Entbindung, besteht eine Pflicht des Arztes zur Aufklärung der Mutter über die Möglichkeit der Schnittentbindung (BGH, Urteil vom 17. 5. 2011 - VI ZR 69/ 10 -).

Tatbestand:

Der Kläger nimmt die Beklagte als geburtsleitende Ärztin auf Schadensersatz wegen eines Geburtsschadens in Anspruch. Die Mutter des Klägers wurde für die Geburt am 25. November 2002 nach der 39. Schwangerschaftswoche stationär in der Abteilung für Gynäkologie und Geburtshilfe eines Krankenhauses aufgenommen, in dem die Beklagte als Belegärztin tätig war.
Während der nur langsam fortschreitenden Geburt bat die Mutter des Klägers die Beklagte um die Durchführung einer Schnittentbindung, was die Beklagte zunächst ablehnte.
Nach dem Einleiten der Geburt versuchte die Beklagte, den Kläger durch Vakuumextraktion mittels Saugglocke zu entwickeln. Nachdem ihr der Versuch zum zweiten Mal misslungen war, führte sie schließlich eine Notsectio durch, wonach der Kläger am 27. November 2002 um 17. 57 Uhr mit einer schweren metabolischen Azidose zur Welt kam und reanimiert werden musste. Der neonatologische Abholdienst, der nicht zeitgleich mit dem Entschluss zur Notsectio alarmiert worden war, übernahm die Versorgung des Klägers erst gegen 18. 40 Uhr. Der Kläger ist seit der Geburt schwerstgeschädigt.

Gründe:
(…) Die Klägerin macht jedoch mit Recht geltend, dass das Berufungsgericht rechtsfehlerhaft eine Pflicht zur Aufklärung über die Alternative einer Schnittentbindung verneint hat.

BGH: Besteht eine gleichwertige Alternative mit geringeren Belastungen oder Risiken, so muß über Alternative aufgeklärt werden

a) Nach ständiger Rechtsprechung des erkennenden Senats ist eine Unterrichtung über eine alternative Behandlungsmöglichkeit erforderlich, wenn für eine medizinisch sinnvolle und indizierte Therapie mehrere gleichwertige Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, die zu jeweils unterschiedlichen Belastungen des Patienten führen oder unterschiedliche Risiken und Erfolgschancen bieten (vgl. Senatsurteile vom 22. September 1987 - VI ZR 238/ 86, BGHZ 102, 17, 22; vom 15. Februar 2000 - VI ZR 48/ 99, BGHZ 144, 1, 10 und vom 21. November 1995 - VI ZR 329/ 94, VersR 1996, 233). Gemäß diesem allgemeinen Grundsatz braucht der geburtsleitende Arzt zwar in einer normalen Entbindungssituation, bei der die Möglichkeit einer Schnittentbindung medizinisch nicht indiziert und deshalb keine echte Alternative zur vaginalen Geburt ist, ohne besondere Veranlassung die Möglichkeit einer Schnittentbindung nicht zur Sprache zu bringen. Anders liegt es aber, wenn für den Fall, dass die Geburt vaginal erfolgt, für das Kind ernstzunehmende Gefahren drohen, daher im Interesse des Kindes gewichtige Gründe für eine Schnittentbindung sprechen und diese unter Berücksichtigung auch der Konstitution und der Befindlichkeit der Mutter in der konkreten Situation eine medizinisch verantwortbare Alternative darstellt (vgl. Senatsurteile vom 6. Dezember 1988 - VI ZR 132/ 88, BGHZ 106, 153, 157; vom 16. Februar 1993 - VI ZR 300/ 91, VersR 1993, 703, 704; vom 19. Januar 1993 - VI ZR 60/ 92, VersR 1993, 835, 836; vom 25. November 2003 - VI ZR 8/ 03, VersR 2004, 645, 648 und vom 14. September 2004 - VI ZR 186/ 03, VersR 2005, 227 Rn. 9). Dabei macht es keinen Unterschied, ob die Risiken für die Mutter oder das Kind entstehen, weil die Mutter die natürliche Sachwalterin der Belange auch des Kindes ist (vgl. Senatsurteile vom 6. Dezember 1988 - VI ZR 132/ 88 und vom 14. September 2004 - VI ZR 186/ 03, jeweils aaO).

BGH: Aufklärung über Schnittentbindung nötig, sobald bei Risikogeburt eine relative Indikation dafür gegeben ist

Bei der Wahl zwischen vaginaler Entbindung, ggf. mit Vakuum- Extraktion, und Schnittentbindung handelt es sich für die davon betroffene Frau um eine grundlegende Entscheidung, bei der sie entweder ihrem eigenen Leben oder dem Leben und der Gesundheit ihres Kindes Priorität einräumt. Das Recht jeder Frau, selbst darüber bestimmen zu dürfen, muss möglichst umfassend gewährleistet werden. Andererseits soll die werdende Mutter während des Geburtsvorgangs aber auch nicht ohne Grund mit Hinweisen über die unterschiedlichen Gefahren und Risiken der verschiedenen Entbindungsmethoden belastet werden, und es sollen ihr nicht Entscheidungen für eine dieser Methoden abverlangt werden, solange es noch ganz ungewiss ist, ob eine solche Entscheidung überhaupt getroffen werden muss. Darüber hinaus muss jede Aufklärung auch einen konkreten Gehalt haben; ein Aufklärungsgespräch auf so unsicherer Grundlage müsste weitgehend theoretisch bleiben. Eine vorgezogene Aufklärung über die unterschiedlichen Risiken der verschiedenen Entbindungsmethoden ist deshalb nicht bei jeder Geburt erforderlich und auch dann noch nicht, wenn nur die theoretische Möglichkeit besteht, dass im weiteren Verlauf eine Konstellation eintreten kann, die als relative Indikation für eine Schnittentbindung zu werten ist. Eine solche Aufklärung ist jedoch immer dann erforderlich und muss dann bereits zu einem Zeitpunkt vorgenommen werden, zu dem die Patientin sich noch in einem Zustand befindet, in dem diese Problematik mit ihr besprochen werden kann, wenn deutliche Anzeichen dafür bestehen, dass sich der Geburtsvorgang in Richtung auf eine solche Entscheidungssituation entwickeln kann, in der die Schnittentbindung notwendig oder zumindest zu einer echten Alternative zur vaginalen Entbindung wird. Das ist etwa dann der Fall, wenn sich bei einer Risikogeburt konkret abzeichnet, dass sich die Risiken in Richtung auf die Notwendigkeit oder die relative Indikation einer Schnittentbindung entwickeln können (vgl. Senatsurteil vom 16. Februar 1993 - VI ZR 300/ 91, aaO S. 704).

b) Nach diesen Grundsätzen hätte die Beklagte die Mutter des Klägers spätestens um 16. 10 Uhr über die alternative Möglichkeit einer Sectio aufklären müssen. Das Berufungsgericht stellt zu hohe Anforderungen an die Voraussetzungen einer Aufklärungspflicht über eine alternative Schnittentbindung, soweit es meint, diese sei nur bei einer zwingenden Indikation erforderlich gewesen, die der Sachverständige Prof. Dr. St. verneint habe.

Sachverständiger: Ich hätte in dieser Situation einen Kaiserschnitt vorgenommen

Die Revision weist mit Recht darauf hin, dass der Sachverständige Prof. Dr. St., auf dessen Ausführungen sich das Berufungsgericht bezieht, mehrmals betont hat, dass er wegen der schon lange dauernden Geburt "zur Minimierung des Risikos" die Sectio vorgenommen hätte. Dies hat der Sachverständige in seinem schriftlichen Gutachten dahingehend erläutert, dass allein schon eine verlängerte Geburtsdauer erfahrungsgemäß mit erhöhter fetaler Gefährdung und Venenschwäche einhergehe, es bereits um 14. 38 Uhr zu einer bis 14. 44 Uhr andauernden ersten "fetalen Bradykardie" gekommen sei, die Auffälligkeiten um 16. 10 Uhr in einer Serie von mindestens drei Dezelerationen der fetalen Herzfrequenz mit einer Gesamtdauer von etwa 9 Minuten bestanden habe und ein suspektes Muster der fetalen Herzfrequenz nicht mehr dem regelrechten Verlauf der Geburt entspreche.

Sachverständiger hätte Mutter über alternative Schnittentbindung aufgeklärt

Bei seiner mündlichen Anhörung vor dem Berufungsgericht hat der Sachverständige - auch nach dem Verständnis des Berufungsgerichts im Berufungsurteil - bestätigt, dass er eine Schnittentbindung ab 16. 10 Uhr - wenn auch nicht als zwingend - so doch als (relativ) indizierte, sinnvolle Alternative angesehen und die Mutter entsprechend aufgeklärt hätte.

Soweit das Berufungsgericht entgegen den entsprechenden Äußerungen des Gerichtssachverständigen Prof. Dr. St. eine Aufklärungspflicht bei einer (relativen) Indikation für eine Schnittentbindung verneint, wird dies weder aus medizinischer Sicht von den Äußerungen des Sachverständigen getragen noch aus rechtlicher Sicht durch die Rechtsprechung des erkennenden Senats (vgl. Senatsurteil vom 16. Februar 1993 - VI ZR 300/ 91, aaO). Aus dem Umstand, dass früheren Senatsurteilen Fallgestaltungen zugrunde lagen, bei denen bereits eine konkrete Gefährdung des Kindes für den Fall der vaginalen Geburt insbesondere bei Risikoschwangerschaften bestand, lässt sich nicht der Umkehrschluss ziehen, dass bei Bestehen einer (lediglich) relativen Indikation für eine Schnittentbindung zu einem Zeitpunkt, in dem (noch) keine konkrete Gefährdung des Kindes vorliegt, keine Aufklärungspflicht gegenüber der Mutter besteht.
War eine Sectio im Streitfall relativ indiziert und deshalb eine echte Alternative zur vaginal-operativen Entbindung hätte die Beklagte die Mutter des Klägers spätestens ab 16. 10 Uhr über die Möglichkeit sowie die Vorteile und die Risiken der in Frage kommenden Entbindungsmethoden aufklären müssen. Dies gilt hier umso mehr, als die Mutter des Klägers wegen des schleppenden Geburtsverlaufs schon vorher den Wunsch nach einer Sectio geäußert hatte.
Ist mithin aufgrund der Feststellungen des Berufungsgerichts die vaginaloperative Entbindung des Klägers wegen unzureichender Aufklärung seiner Mutter ohne wirksame Einwilligung erfolgt, kommt bereits unter diesem Gesichtspunkt eine Haftung der Beklagten in Betracht. (...)

Hinweis:
Die Entscheidung reiht sich ein in die anderen Entscheidungen des Bundesgerichtshofes zur Schnittentbindung. Neu ist, dass der BGH hier eine relative Indikation für das Entstehen einer Aufklärungspflicht ausreichen läßt. Bezogen auf den konkreten Fall stellt der BGH fest, dass dann, wenn die Schnittentbindung eine echte Alternative zur normalen vaginalen Geburt darstellt, der Arzt die Mutter auch darüber aufklären muss.

Im vorliegenden Fall bestätigte der gerichtliche Sachverständige die Auffassung der klagenden Mutter und erklärte, er hätte die Mutter entsprechend aufgeklärt. Einmal mehr zeigt sich an diesem Urteil, dass Arzthaftungsverfahren durch ärztliche Sachverständige entschieden werden. Maßgeblich ist daher, ob der Sachverständige seine Einschätzung plausibel darlegen kann und ob er in der Lage ist, diese Einschätzung in der Anhörung vor Gericht plausibel zu machen und insbesondere, ob er sie auch gegen fachlich versierte Einwände der Anwälte der Prozessparteien verteidigen kann.

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht Philip Christmann
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