Der BGH erläutert die Pflichten des Arztes bei sog. Zufallsfunden, also solchen, die am Rande der Untersuchung gemacht wurden. Des weiteren grenzt er in dem aktuellen Urteil zum Arzthaftungsrecht den Befunderhebungsfehler vom Diagnoseirrtum bei Zufallsfunden ab (BGH, Urteil vom 21.12.2010 - VI ZR 284/09 -).

Den Arzt verpflichten auch die Ergebnisse solcher Untersuchungen zur Einhaltung der berufsspezifischen Sorgfalt, die medizinisch nicht geboten waren, aber trotzdem - beispielsweise aus besonderer Vorsicht - veranlasst wurden.

Der für die Auswertung eines Befundes im konkreten Fall medizinisch verantwortliche Arzt hat all die Auffälligkeiten zur Kenntnis und zum Anlass für die gebotenen Maßnahmen zu nehmen, die er aus berufsfachlicher Sicht seines Fachbereichs unter Berücksichtigung der in seinem Fachbereich vorausgesetzten Kenntnisse und Fähigkeiten sowie der Behandlungssituation feststellen muss. Vor in diesem Sinne für ihn erkennbaren "Zufallsbefunden" darf er nicht die Augen verschließen.

Dem lag folgender Sachverhalt zu Grunde:

Die Ehefrau des Klägers wurde am 9. März 2003 in dem von der Beklagten zu 1 betriebenen Krankenhaus zur Durchführung einer Meniskusoperation aufgenommen. Im Rahmen der Vorbereitung der Operation veranlasste der bei der Beklagten zu 1 angestellte Anästhesist Dr. K. die Anfertigung einer Röntgenaufnahme der Lunge. Die Aufnahme wurde in der von den Beklagten zu 2 und 3 im Krankenhaus der Beklagten zu 1 betriebenen radiologischen Praxis hergestellt und ohne Auswertung an Dr. K. übermittelt. Dieser wertete die Aufnahme aus. Dabei stellte er keine der Anästhesie entgegenstehenden Umstände fest. Eine ca. 2 Bildzentimeter durchmessende Verdichtungszone rechts supradiaphragmal (Rundherd) bemerkte er nicht. Am 10. März 2003 wurde die Ehefrau des Klägers erfolgreich und ohne Komplikationen am Meniskus operiert. Im April 2004 wurde bei ihr ein Adenokarzinom im Bereich des rechten Lungenflügels festgestellt, infolgedessen sie am 21. Dezember 2006 verstarb.

Der Kläger macht geltend, Dr. K. habe den auf der Röntgenaufnahme vom 9. März 2003 ersichtlichen Rundherd, der eindeutig auf ein tumoröses Geschehen hinweise, grob fehlerhaft nicht erkannt und nicht weiter abgeklärt. Wäre das Karzinom bereits im März 2003 erkannt worden, so hätte es noch vor der Metastasierung entfernt werden können.

Das Berufungsgericht hatte der Klage stattgegeben.

Der BGHsah hier aber nur einen Diagnosefehler und nicht einen Befunderhebungsfehler. Er hob daher das zweitinstanzliche Urteil auf und verwies zur weiteren Entscheidung zurück.

Zur Begründung führt der BGH aus:

Durchgreifenden rechtlichen Bedenken begegnet aber die Beurteilung des Berufungsgerichts, der Beklagten sei ein Befunderhebungsfehler vorzuwerfen, weil ihr Anästhesist (Anm.: Dr. K.) bei der Auswertung der Röntgenaufnahme die auch für ein ungeübtes Auge ohne weiteres erkennbare Verdichtung im Bereich des rechten Lungenflügels nicht erkannt und es unterlassen habe, ihre Ursache durch weitere differentialdiagnostische Maßnahmen abzuklären.

a) Die Revision wendet sich allerdings ohne Erfolg gegen die Annahme des Berufungsgerichts, die auf Veranlassung von Dr. K. gefertigte Röntgenaufnahme habe trotz der Tatsache ausgewertet werden müssen, dass ihre Anfertigung vor Durchführung der Meniskusoperation medizinisch nicht geboten gewesen sein könnte. Da das Wohl des Patienten oberstes Gebot und Richtschnur jeden ärztlichen Handelns ist (vgl. Senatsurteil vom 26. Januar 1999 - VI ZR 376/ 97, BGHZ 140, 309, 316), verpflichten den Arzt auch die Ergebnisse solcher Untersuchungen zur Einhaltung der berufsspezifischen Sorgfalt, die medizinisch nicht verlangt waren, aber trotzdem - beispielsweise aus besonderer Vorsicht - veranlasst wurden. Auf diese Weise gewonnene Erkenntnisse dürfen entgegen der Auffassung der Revision vom Arzt nicht deshalb ignoriert werden, weil keine Verpflichtung zur Durchführung der entsprechenden Untersuchung bestand (vgl. OLG Düsseldorf, VersR 1992, 494, 495; Steffen/ Pauge, Arzthaftungsrecht, 11. Aufl. Rn. 176).

b) Ohne Erfolg macht die Revision auch geltend, die Beklagte habe die Röntgenaufnahme lediglich auf anästhesierelevante Besonderheiten auswerten müssen. Aufgrund der ihm gegenüber dem Patienten obliegenden Fürsorgepflicht hat der für die Auswertung eines Befundes im konkreten Fall medizinisch verantwortliche Arzt all die Auffälligkeiten zur Kenntnis und zum Anlass für die gebotenen Maßnahmen zu nehmen, die er aus berufsfachlicher Sicht seines Fachbereichs unter Berücksichtigung der in seinem Fachbereich vorausgesetzten Kenntnisse und Fähigkeiten sowie der Behandlungssituation feststellen muss (vgl. zum medizinischen Standard Senatsurteile vom 16. Mai 2000 - VI ZR 321/ 98, BGHZ 144, 296, 305 f.; vom 29. November 1994 - VI ZR 189/ 93, VersR 1995, 659, 660 m. w. N.; vom 16. März 1999 - VI ZR 34/ 98, VersR 1999, 716, 718). Vor in diesem Sinne für ihn erkennbaren "Zufallsbefunden" darf er nicht die Augen verschließen.

c) Die Revision beanstandet aber zu Recht, dass das Berufungsgericht den von ihm angenommenen Fehler des Anästhesisten als Befunderhebungsfehler und nicht als Diagnoseirrtum qualifiziert hat. Ein Befunderhebungsfehler ist gegeben, wenn die Erhebung medizinisch gebotener Befunde unterlassen wird. Im Unterschied dazu liegt ein Diagnoseirrtum vor, wenn der Arzt erhobene oder sonst vorliegende Befunde falsch interpretiert und deshalb nicht die aus der berufsfachlichen Sicht seines Fachbereichs gebotenen - therapeutischen oder diagnostischen - Maßnahmen ergreift (vgl. Senatsurteile vom 10. November 1987 - VI ZR 39/ 87, VersR 1988, 293, 294; vom 23. März 1993 - VI ZR 26/ 92, VersR 1993, 836, 838; vom 4. Oktober 1994 - VI ZR 205/ 93, VersR 1995, 46; vom 8. Juli 2003 - VI ZR 304/ 02, aaO, S. 1256 f. und vom 12. Februar 2008 - VI ZR 221/ 06, VersR 2008, 644 Rn. 7). Vorliegend wirft das Berufungsgericht der Beklagten vor, der bei ihr angestellte Anästhesist habe die auf dem Röntgenbild auch für ein ungeübtes Auge ohne weiteres erkennbare, abklärungsbedürftige Verdichtung im Bereich des rechten Lungenflügels nicht erkannt und es deshalb unterlassen, deren Ursache differentialdiagnostisch abklären zu lassen. Es lastet dem Anästhesisten der Beklagten damit in erster Linie eine Fehlinterpretation des erhobenen Befundes, d. h. einen Diagnosefehler an. Wie die Revision zu Recht geltend macht, wird ein Diagnosefehler aber nicht dadurch zu einem Befunderhebungsfehler, dass bei objektiv zutreffender Diagnosestellung noch weitere Befunde zu erheben gewesen wären.

Anmerkung:

Ein Befunderhebungsfehler liegt also vor, wenn die Erhebung medizinisch gebotener Befunde unterlassen wird. Im Unterschied dazu liegt ein Diagnoseirrtum vor, wenn der Arzt erhobene oder sonst vorliegende Befunde falsch interpretiert und deshalb nicht die aus der berufsfachlichen Sicht seines Fachbereichs gebotenen – therapeutischen oder diagnostischen – Maßnahmen ergreift. Ein Diagnosefehler wird aber nicht dadurch zu einem Befunderhebungsfehler, dass bei objektiv zutreffender Diagnosestellung noch weitere Befunde zu erheben gewesen wären. Die Unterscheidung der verscheidenen Fehler im Zusammenhang mit der Diagnose ist deshalb von besonderer Bedeutung, weil die Rechtsprechung mit dem Aussprechen eines Diagnoseirrtum als Behandlungsfehler eher zurückhaltend ist, während sie diese Zurückhaltung bei der Einstufung eines Befunderhebungsfehlers als Behandlungsfehler nicht zeigt. Vielmehr geht der BGH mit dem Arzt bei festgestellten Befunderhebungsfehlern streng ins Gericht und wertet diese auch als grober Behandlungsfehler mit der Folge der Umkehr der Beweislast zu Gunsten des Patienten.

Im vorliegenden Fall ging der BGH aber "nur" von einem Diagnosefehler aus und verneinte in der Folge einen Schadensersatzanspruch.

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht Philip Christmann
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