(10.7.2024) Hat es ein Arzt sowohl pflichtwidrig unterlassen, die Erhebung medizinisch gebotener Befunde zu veranlassen (auch wenn diese Befunderhebung dann von anderen Ärzten durchzuführen ist), als auch die Befunderhebung durch falsche Angaben vereitelt, so liegt ein Befunderhebungsfehler vor (und nicht ein Unterlassen der gebotenen therapeutischen Sicherungsaufklärung) (Bundesgerichtshof, Urteil vom 4.6.2024 - VI ZR 108/23).
Der Fall:
Im vorliegenden Fall war das klagende Kind in der 25. Schwangerschaftswoche geboren worden, mithin deutlich zu früh. Es bestand daher ein besonderes Risiko für eine Netzhautablösung. Bis zur Entlassung aus dem Krankenhaus drei Monate nach der Geburt wurde der Kläger regelmäßig augenärztlich untersucht. Bei der Entlassung empfahlen die Klinikärzte den Eltern eine Kontrolle nach drei weiteren Monaten. Bereits nach etwa fünf Wochen nach der Entlassung stellte sich heraus, dass sich eine Netzhautablösung entwickelt hatte. Das rechte Auge ist vollständig erblindet. Auf dem linken Auge hat der Kläger eine hochgradige Sehbehinderung.
Der Kläger machte geltend, es sei ein Behandlungsfehler gewesen, eine Kontrolluntersuchung erst drei Monate nach der Krankenhausentlassung zu empfehlen. Das Landgericht Oldenburg hat die Klage abgewiesen, weil es einen direkten Zusammenhang zwischen dem späten Kontrolltermin und der Netzhautablösung nicht für erwiesen hielt. Das Kind legte Berufung gegen dieses Urteil ein. Das Oberlandesgericht Oldenburg gab dem Kind Recht und bejahte einen Fehler der Klinikärzte, weil diese die gebotene therapeutische Sicherungsaufklärung unterlassen hätte (Oberlandesgericht Oldenburg, Urteil vom 01.03.2023, Az. 5 U 45/22). Dagegen legte die Klinik Revision zum Bundesgerichtshof ein.
Die Entscheidung:
Der Bundesgerichtshof hat ebenfalls einen Fehler der Ärzte bejaht. Allerdings hat es die Haftung der Klinik (anders als das Oberlandesgericht Oldenburg) für den Schaden nicht auf eine Verletzung der Pflicht zur therapeutischen Sicherungsaufklärung gestützt, sondern direkt auf einen Befunderhebungsfehler. Die Ärzte hätten es sowohl pflichtwidrig unterlassen, die Erhebung medizinisch gebotener Befunde zu veranlassen, als auch die Befunderhebung durch falsche Angaben (wonach eine weitere Untersuchung erst in drei Monaten geboten sei) vereitelt - dieses Verhalten sei als Befunderhebungsfehler einzuordnen (und nicht als fehlerhafte therapeutische Sicherungsaufklärung). Ein Krankenhausträger sei unter den Voraussetzungen des § 115a SGB V vielmehr berechtigt, gesetzlich Versicherte im Anschluss an die stationäre Krankenhausbehandlung ohne Unterkunft und Verpflegung weiter zu behandeln (nachstationäre Behandlung, und gemäß § 39 Abs. 1a SGB V verpflichtet, im Rahmen der bestehenden Versorgungsstruktur für eine sachgerechte Anschlussversorgung nach der Krankenhausbehandlung zu sorgen. Bei dem klagenden Kind bestand die Gefahr schwerwiegender Gesundheitsschäden bei Nichtuntersuchung. In dieser Situation hätte die Beklagte zum Schutz des ihr anvertrauten Klägers - wenn sie eine nachstationäre Behandlung des Klägers nicht für erforderlich hielt - zumindest in Absprache mit den Eltern frühzeitig Kontakt mit einem weiterbehandelnden Augenarzt aufnehmen und für einen rechtzeitigen Termin für die Untersuchung des Klägers, beispielsweise durch Vereinbarung eines Untersuchungstermins, sorgen müssen, so der Bundesgerichtshof. Damit greife die Beweislastumkehr aus § 630h Absatz 5 Satz 2 BGB zu Gunsten des klagenden Kindes ein, so dass die Klinik für den Schaden haften müsse.
Der Bundesgerichtshof hat das Urteil des Oberlandesgerichts Oldenburg gleichwohl aufgehoben und die Sache erneut zum Oberlandesgericht zurück verwiesen, damit die Klinik auf die neuen rechtlichen Erwägungen des BGH erwidern kann. Schlußendlich ist aber kein anderes Ergebnis zu erwarten: die Klinik haftet für den Sehverlust des Neugeborenen.
Praxisanmerkung:
Der Befunderhebungsfehler wird grundsätzlich dann bejaht, wenn es ein Arzt unterläßt, einen medizinisch gebotenen Befund zu erheben oder zu sichern (soweit der Befund ein Ergebnis erbracht hätte, das Anlass zu weiteren Maßnahmen gegeben hätte, und wenn das Unterlassen solcher Maßnahmen grob fehlerhaft gewesen wäre), § 650h Abs. 5 Satz 2 BGB. Sprich der Arzt begeht einen Befunderhebungsfehler, wenn er einen gebotenen medizinischen Befund wie zum Beispiel eine Röntgenuntersuchung nicht erhebt oder ihn zwar erhebt, ihn aber nicht sichert.
Der Bundesgerichtshof stellt nun klar, dass es auch als Befunderhebungsfehler anzusehen ist, wenn der Arzt (wie etwa ein Klinikarzt, der seinen Patienten in Bälde entlassen wird) es unterlässt, die Erhebung medizinisch gebotener Befunde zu veranlassen, sprich wenn er es unterlässt, die Weiterbehandlung durch zum Beispiel einen niedergelassenen Arzt oder durch eine sog. nachstationäre Versorgung sicher zu stellen. Des weiteren stellt der Bundesgerichtshof klar, dass es ebenfalls einen Befunderhebungsfehler darstellt wenn der Arzt die Befunderhebung durch falsche Angaben vereitelt. Wenn also ein Arzt das Risiko einer unterlassenen Nachuntersuchung fehlerhaft als gering angibt oder wenn er eine Nachuntersuchung in fehlerhafter Weise als erst später erforderlich bezeichnet, so ist dies einem Befunderhebungsfehler gleichzustellen.
Da der Befunderhebungsfehler zu einer Beweislastumkehr zuungunsten des Arztes führt, ist diese Rechtsprechung aus Patientensicht zu begrüßen. Der behandelnde Arzt wird durch dieses Urteil gemahnt, die Behandlung des Patienten nach der Entlassung aus der Klinik zu organisieren und sicher zu stellen. Der Klinikarzt darf sich nicht einfach darauf verlassen, dass der Patient nach der Entlassung sich schon weiterbehandeln lassen wird. Überdies ist dem Klinikarzt zu raten, den Patienten über die Notwendigkeit der Nachbehandlung und den gebotenen Zeitpunkt der Nachbehandlung aufzuklären. Des weiteren ist die Dokumentation dieses Aufklärungsgesprächs sinnvoll und hilfreich für den Arzt, um nachzuweisen, dass er den Hinweis erteilt hat.
English version:
(July 10, 2024) If a doctor has both failed to arrange for medically required findings to be collected (even if these findings must then be carried out by other doctors) and thwarted the findings by providing false information, there is an error in the findings (and not a failure to provide the necessary therapeutic information) (Federal Court of Justice, judgment of June 4, 2024 - VI ZR 108/23).
The case:
In the present case, the plaintiff child was born in the 25th week of pregnancy, which was significantly premature. There was therefore a particular risk of retinal detachment. The plaintiff was regularly examined by an ophthalmologist until he was discharged from the hospital three months after the birth. When he was discharged, the hospital doctors recommended that the parents have a check-up after a further three months. Just about five weeks after discharge, it became apparent that retinal detachment had developed. The right eye is completely blind. The plaintiff has severe visual impairment in his left eye.
The plaintiff claimed that it was a medical error to recommend a follow-up examination only three months after discharge from hospital. The Oldenburg Regional Court dismissed the claim because it did not consider a direct connection between the late check-up appointment and the retinal detachment to be proven. The child appealed against this ruling. The Oldenburg Higher Regional Court ruled in favor of the child and found that the hospital doctors had made a mistake because they had failed to provide the required therapeutic safety information. The hospital appealed against this to the Federal Court of Justice.
The decision:
The Federal Court of Justice also found that the doctors had made a mistake. However, unlike the Oldenburg Higher Regional Court, it did not base the hospital's liability for the damage on a breach of the duty to provide therapeutic safety information, but directly on an error in the diagnosis. The doctors had both failed to arrange for the medically necessary findings to be collected, in breach of their duty, and had also thwarted the findings by providing false information (according to which a further examination was only necessary in three months) - this conduct was to be classified as an error in the findings (and not as incorrect therapeutic precautionary information). Rather, under the conditions of Section 115a SGB V, a hospital operator is entitled to continue to treat statutory insured persons after inpatient hospital treatment without accommodation and meals (post-inpatient treatment, and according to Section 39 Paragraph 1a SGB V, is obliged to ensure appropriate follow-up care after hospital treatment within the framework of the existing care structure. The child who filed the complaint was at risk of serious damage to his health if he was not examined. In this situation, in order to protect the plaintiff entrusted to her - if she did not consider post-inpatient treatment of the plaintiff to be necessary - the defendant should have at least contacted an ophthalmologist who would continue to treat him at an early stage in consultation with the parents and arranged a timely appointment for the plaintiff's examination, for example by arranging an examination appointment, according to the Federal Court of Justice. This means that the reversal of the burden of proof under Section 630h Paragraph 5 Sentence 2 of the German Civil Code (BGB) applies in favour of the child who filed the complaint, meaning that the clinic must be liable for the damage.
The Federal Court of Justice nevertheless overturned the judgment of the Oldenburg Higher Regional Court and referred the matter back to the Higher Regional Court so that the clinic could respond to the BGH's new legal considerations. Ultimately, however, no other result is to be expected: the clinic is liable for the newborn's loss of vision.
Practical note:
An error in the assessment of findings is generally affirmed if a doctor fails to collect or secure a medically necessary finding (if the finding would have produced a result that would have given rise to further measures and if the failure to carry out such measures would have been grossly incorrect), Section 650h Paragraph 5 Sentence 2 of the German Civil Code. In other words, the doctor commits an error in the assessment of findings if he does not collect a necessary medical finding such as an X-ray examination or if he collects it but does not secure it.
The Federal Court of Justice has now clarified that it is also to be regarded as an error in the assessment if the doctor (such as a hospital doctor who is about to discharge his patient) fails to arrange for medically necessary findings to be collected, i.e. if he fails to ensure further treatment by, for example, a general practitioner or by so-called post-hospital care. Furthermore, the Federal Court of Justice has clarified that it is also an error in the assessment if the doctor thwarts the assessment by providing false information. If a doctor incorrectly states that the risk of a missed follow-up examination is low or if he incorrectly states that a follow-up examination is only necessary at a later date, this is to be regarded as an error in the assessment.
Since the error in the assessment leads to a reversal of the burden of proof to the detriment of the doctor, this case law is to be welcomed from the patient's point of view. This ruling reminds the treating doctor to organize and ensure the patient's treatment after discharge from the hospital. The hospital doctor cannot simply rely on the patient receiving further treatment after discharge. The hospital doctor is also advised to inform the patient about the need for follow-up treatment and when it should take place. Furthermore, documenting this briefing session is useful and helpful for the doctor to prove that he or she gave the information.