(22.2.2023) Beantragt ein Psychotherapeut eine Sonderbedarfszulassung, muss der Zulassungsausschuss der Kassenärztlichen Vereinigung prüfen, ob ein Sonderbedarf vorliegt. Dazu muss er umfangreiche Ermittlungen anstellen wie zum Beisppiel die niedergelassenen Kollegen befragen und Weartezeiten ermitteln. Tut der Zulassungsausschuss dies wiederholt nicht, kann im Einzelfall eine eingeschränkte Umkehr der Beweislast zu Gunsten des Psychotheraoeuten eingreifen. Und hat sich das Verfahren schon über Jahre hingezogen, so kann das Sozialgericht ausnahmsweise den Zulassungsauschuss direkt verurteilen, dem Psychotherapeuten die Sonderbedarfszulassung zu erteilen (Landessozialgericht der Länder Berlin und Brandenburg, Urteil vom 18.05.2022 - L 7 KA 12/20).
Der Fall:
Ein Berliner Psychotherapeut in eigener Praxis behandelte seit dem Jahr 2009 Privatversicherte, Selbstzahler und gesetzlich versicherte Patienten im Wege der sogenannten Kostenerstattung.
In Berlin ist für die Arztgruppe der Psychotherapeuten Überversorgung festgestellt und die Zulassung von Psychotherapeuten ist beschränkt. Zulassungen können nur im Wege der Nachbesetzung erworben werden oder wenn ausnahmsweise ein Sonderbedarf besteht.
Der Kläger beantragte Mitte 2011 die Zulassung als Psychologischer Psychotherapeut zur vertragspsychotherapeutischen Versorgung mit dem Schwerpunkt Verhaltenstherapie im Rahmen einer Sonderbedarfszulassung. Er machte geltend, dass für die Hälfte seiner gesetzlich versicherten Patienten wohnortnah im Teilbezirk Friedrichshain kein Behandler zur Verfügung stehe. Der überwiegende Teil der anderen Hälfte seiner gesetzlich versicherten Patienten bedürfe einer sexualtherapeutisch spezialisierten Psychotherapie. Rund ein Fünftel seiner Patienten frage infolge einer onkologischen Erkrankung nach einer psychoonkologisch spezialisierten Psychotherapie. Dem Antrag beigefügt waren u.a. 31 Kostenübernahmeerklärungen gesetzlicher Krankenkassen für die psychotherapeutische Behandlung Versicherter - überwiegend in Form von Verhaltenstherapie.
Der Zulassungsausschuss bei der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin wies den Antrag als unbegründet zurück. Denn es bestehe kein Sonderbedarf. Auch der Widerspruch des Psychotherapeuten blieb ohne Erfolg - der beklagte Berufungsausschuss wies den Antrag ebenfalls ab. Dagegen klagte der Psychotherapeut und das Sozialgericht Berlin gab seiner Klage im Jahr 2014 statt: Das Gericht verpflichette den Berufungsausschuss, den Antrag auf Sonderbedarf noch einmal zu prüfen und dann neu zu entscheiden.
Dagegen legte der Berufungsausschuss Berufung zum Bundessozialgericht ein.
Das Bundessozialgericht wies diese Berufung 2017 zurück und gab dem Berufungsausschuss genaue Anweisungen, welche Ermittlungen er anstellen müsse, um den vom Kläger behaupteten Sonderbedarf zu prüfen: Er müsse prüfen, welche Leistungen erforderlich seien und ob diese angeboten würden. Die eingehende Antragsbegründung des Klägers biete ausreichende Anhaltspunkte für Ermittlungen des Beklagten zum Vorliegen eines qualifikationsbezogenen Sonderbedarfs. Hinweise zum Bedarf könnten insbesondere die Wartezeiten für die Behandlung bei Ärzten/Psychotherapeuten sein. Es sei regelmäßig geboten, die bereits niedergelassenen Ärzte nach ihrem Leistungsangebot und der Aufnahmekapazität ihrer Praxen zu befragen. Diese Befragung habe sich entsprechend der Zielrichtung von Sonderbedarfszulassungen grundsätzlich auf die gesamte Breite eines medizinischen Versorgungsbereichs und nicht nur auf einzelne spezielle Leistungen zu erstrecken. Die Ermittlungen dürften sich typischerweise nicht in Befragungen der im Einzugsbereich tätigen Leistungserbringerinnen und -erbringer erschöpfen; deren Aussagen seien kritisch zu würdigen, zu objektivieren und zu verifizieren. Gerade für psychotherapeutische Behandlungen könne die Zahl der von den Krankenkassen bewilligten Kostenerstattungen für bestimmte Richtlinienverfahren Hinweise auf einen ungedeckten Bedarf geben. Die KV werde mitzuteilen haben, in welchem Umfang die niedergelassenen Psychotherapeuten ihren vollen oder hälftigen Versorgungsauftrag wahrnehmen. Zu berücksichtigen seien nur reale, nicht dagegen potenzielle Versorgungsangebote, die tatsächlich nicht zur Verfügung stünden, weil Leistungserbringer nicht zur Erbringung weiterer Leistungen bereit seien.
Die KV führte ab dem Jahr 2018 längere Ermittlungen zu den vom BSG gestellten Fragen durch. Diese liefen äußerts zäh. Die befragten Krankenkassen und Psychotherapeuten antworteten gar nicht oder nur widerwillig und teilweise nicht erschöpfend. Es erwies sich als schwierig, Zahlen zu den Kostenerstattungsverfahren zu ermitteln.
Auf die im online-Verfahren im Auftrag des Beklagten vom Zulassungsausschuss durchgeführte Sonderbedarfsumfrage mit 1.070 übersandten Fragebögen an die Psychotherapeuten/Ärzte in ganz Berlin antworteten nur 76 (das entspricht 7,1 %) der Befragten. Einer der Antwortenden gab an, nicht mit Verhaltenstherapie zu behandeln. Die übrigen 75 Verhaltenstherapeuten gaben eine durchschnittliche Wartezeit von 26 Tagen an. Auf die Frage nach dem Bestehen (eigener) zusätzlicher Kapazitäten antworteten 30 Psychotherapeuten mit "Ja" und 45 mit "Nein". Die Frage nach dem Bestehen eines Versorgungsbedarfs beantworteten 36 Psychotherapeuten mit "Ja" und 39 mit "Nein". Die Beigeladene zu 1) erstellte schließlich ergänzend eine nicht namentliche tabellarische Übersicht (Excel-Tabelle), aus der sich für die (75) Antwortenden die Abrechnungsdaten der Beigeladenen zu 1) sowie die Angaben der einzelnen Antwortenden zu den o.g. Fragen, deren durchschnittliche Fallzahlen für die Quartale 3/2017 bis 4/2018, ihr Praxissitz sowie die Durchschnittsfallzahl der Fachgruppe ersehen ließ.
Ende 2018 lehnte der Beklagte den Antrag des Klägers unter Berufung auf einen fehlenden Bedarf erneut ab.
Erneut klagte der Psychotherapeut gegen diesen Bescheid. Anfang 2020 hat das Sozialgericht den Beklagten verurteilt, über den Antrag des Klägers auf eine Sonderbedarfszulassung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden. Denn der Beklagte habe wiederum den Sonderbedarf nicht hinreichend ermittelt.
Nun wurde es dem Kläger zu bunt. Er fürchtete, dass sich das Verfahren vor dem beklagten Berufungsausschuss nun wieder Jahre hinziehen werde ohne letztlich zu einem für ihn befriedigenden Erfolg, nämlich einer Sonderbedarfszulassung zu führen. Daher legte er selbst Berufung ein und verlangte nun, das Gericht möge den Beklagten direkt verpflichten, ihm die begehrte Sonderbedarfszulassung zu erteilen. Er wies darauf hin, dass der Beklagte selbst von Versorgungsproblemen im Bereich der Psychotherapie ausgehe und der Bedarf mittlerweile sogar nachweislich gestiegen sei.
Die Entscheidung:
Das LSG bejaht einen Anspruch auf Erteilung einer hälftigen Sonderbedarfszulassung. Der Anspruch beruhe auf § 101 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB V i.V.m. §§ 36, 37 der Bedarfsplanungsrichtlinie des GBA. Es bestehe ein sog. qualifikationsbezogener Sonderbedarf. Der Kläger sei hinreichend qualifiziert und es bestehe auch ein ungedeckter Versorgungsbedarf.
Das anhaltende Ermittlungsdefizit des Beklagten und die fehlende Zuarbeit von Seiten der Krankenkassen führten zu einer eingeschränkten Umkehr der Beweislast zugunsten des Klägers.
Dazu führt das Gericht weiter aus:
Der Beklagte kann sich gegenüber dem Kläger nicht darauf berufen, die gebotene Ermittlung sei ihm unmöglich oder es liege allein ein Versagen Dritter vor. Als Verhalten Dritter in Betracht kommen einerseits das Verhalten der Beigeladenen zu 1) und der vom Beklagten konkret eingebundenen Krankenkassen, andererseits der niedergelassenen Psychotherapeuten, die die Anfrage zum Sonderbedarf nur zu einem geringen Bruchteil beantwortet haben. Demgegenüber erhebt gemäß § 39 Abs. 1 Ärzte-ZV der Zulassungsausschuss die ihm erforderlich erscheinenden Beweise. Nach § 95 Abs. 3 Sätze 4 und 5 SGB V ist die Kassenärztliche Vereinigung zur Prüfung der Einhaltung der Versorgungsaufträge und Übermittlung an die Zulassungsausschüsse verpflichtet. Für die niedergelassenen Psychotherapeuten sind die vertraglichen Bestimmungen ebenfalls verpflichtend (§ 95 Abs. 3 Satz 3 SGB V). Damit sind auch disziplinarrechtliche Maßnahmen eröffnet, falls sie ihre (Mitwirkungs-)Pflichten verletzen. Die Krankenkassen und Kassenärztlichen Vereinigungen unterliegen als Körperschaften ihrerseits staatlicher Aufsicht im Hinblick auf ihre Bindung an Recht und Gesetz (§ 87 Abs. 1 Viertes Buch Sozialgesetzbuch [SGB IV], § 78 SGB V). Der Beklagte hätte mit Blick darauf die Möglichkeit gehabt, die Aufsichtsbehörden nach § 90 SGB IV einzuschalten, um seinen Ermittlungen zu den Kostenerstattungsanträgen Nachdruck zu verleihen. Stattdessen hat der Beklagte sich allerdings nur in eine überwiegend passive Rolle begeben und sein mageres Ermittlungsergebnis nicht kritisch hinterfragt.
Praxisanmerkung:
Diese Rechtsprechung läßt sich grundsätzlich auch auf Ärzte übertragen, die eine Sonderbedarfszulassung beantragen wollen.
Wichtig ist es, bei der Stellung eines Antrages auf Sonderbedarfszulassung im Einzelnen zu dem Bedarf in dem jeweiligen Bezirk vorzutragen. Je genauer der Arzt/Psychotherpaut hier vorträgt, desto eher hat sein Antrag Aussicht auf Erfolg. Hier sind auch zum Beispiel Testimonials von gesetzlich versicherten Patienten über Wartezeiten bei niedergelassednen Ärzten/Psychotherapeuten und Anträge bzw. Bewilligungen von Kostenerstattungsverfahren hilfreich. Allerdings muss der Antragsteller hier den Datenschutz berücksichtigen und die Unterlagen nur nach Zustimmung des Patienten bzw. nur teilgescwärzt herausgeben an den Zulassungsausschuss.
Ärzte und Psychotherapeuten können mithin die Zulassungsgremien mit gut begründeten Sonderbedarfszulassungsanträgen unter erheblichen Druck setzen. Die Zulassungsgremien müssen dann umfangreiche Ermittlungen zur Versorgungssituation anstellen. Wenn die befragten niedergelassenen Ärzte/Psychotherapeuten dabei nicht mitwirken, müssen sie disziplinarrechtlich dazu gezwunden werden. Wenn die Krankenkassen nicht bei den Ermittlungen mitwirken, müssen die Zulassungsgremien notaflls die Fachaufsicht einschalten und so Druck machen. Sollte sich die Rechtsprechung des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg halten, kommen auf die Zulassungsgremien arbeitsreiche Tage zu. Denn bekanntermaßen gibt es in Berlin einen erheblichen ungedeckten Bedarf an psychotherapeutischer Versorgung.
Gliechwohl bleibt das Sonderbedarfszulassungsverfahren für alle Beteiligten ein unerfreuliches, zeitaufwändiges, kostenintensives Verfahren mit offenem Ausgang. Es bleibt zu hoffen, dass die Zulassungsgremien nun des Öfteren nach gütlichen Lösungen suchen und nach Möglichkeit Sonderbedarfsanträgen entsprechen oder Ermächtigungensanträgen stattgeben.