(19.6.2020) Bei einer Brustuntersuchung zur Früherkennung einer Krebserkrankung soll der Radiologe Auffälligkeiten (hier: eingezogene Brustwarze) zur Kenntnis nehmen und soll dann weitere fachlich gebotene diagnostischen Maßnahmen einleiten. Da die eingezogene Brustwarze ein Anzeichen für Brust-.Krebs sein kann, hat er dann den Verdacht von Brustkrebs diagnostisch abzuklären. Tut der Radiologe dies nicht und erkrankt die Frau an Brustkrebs ist dies ein fehlerhaftes Verhalten des Arztes. Der Arzt hat dann einen Befunderhebungsfehler gemacht. Er ist der Patientin deshalb zu Schadensersatz und Schmerzensgeld verpflichtet (BGH, Urteil vom 26. Mai 2020 – VI ZR 213/19).

Brustuntersuchung durch RadiologenDer Fall: 

2010 untersuchte der beklagte Radiologe einer Gemeinschaftspraxis die Brüste die Klägerin (Mammographie-​Screening). Die Brüste waren unauffällig.

2012 untersuchte eine Frauenärztin die Klägerin zur Krebsvorsorge, ebenfalls ohne auffälligen Befund.

Nach Einladung der Gemeinde, in der die Klägerin wohnte, ließ sich die Klägerin im April 2012 erneut vom beklagten Radiologen zur allgemeinen turnusmäßigen Krebsfrüherkennung untersuchen. Dabei gab sie gegenüber dem Beklagten an, die rechte Brustwarze sei seit ca. einem Jahr leicht eingezogen (sog. Retraktion der Mamille). Der beklagte Radiologe bewertete die Brust als "normal" (BIRADS 1 = Normalbefund) und teilte der Klägerin mit, es bestünden keine Auffälligkeiten. Der eingezogenen Brustwarze ging der Beklagte nicht weiter nach.

Weil sich die rechte Brustwarze weiter einzog, ging die Klägerin 2014 zu einem Frauenarzt, der Brustkrebs diagnostizierte. Es folgten Operationen, bei denen Karzinome und Lymphknoten entfernt wurden. Die Klägerin erhielt auch Bestrahlungen und eine Chemotherapie.

Die Klägerin warf dem beklagten Radiologen vor, er habe seine beiden Mammographie-​Screenings fehlerhaft bewertet. Er habe auch erforderliche weitere Befunderhebungen unterlassen. Bei korrektem Vorgehen wäre der Brustkrebs in einem Stadium entdeckt und behandelt worden, in dem noch keine Lymphknoten befallen gewesen wären. Einer Chemotherapie hätte es dann nicht bedurft und die Anzahl der Bestrahlungen wäre geringer gewesen.

Das Landgericht hat die Beklagten unter Abweisung der Klage im Übrigen gesamtschuldnerisch zur Zahlung eines Schmerzensgeldes von 10.000 € und zum Ersatz des materiellen Schadens in Höhe von 773,14 € zuzüglich Nebenkosten verurteilt und die Ersatzpflicht der Beklagten für künftige Schäden festgestellt.

Die Berufung der Beklagten hat das Oberlandesgericht zurückgewiesen.

Der Radiologe legte Revision zum BGH ein. Er wandetr unter anderem ein, er hätte  darauf vertrauen dürfen, dass die von der Klägerin angegebene Mamillenretraktion bei der 2012 bereits erfolgten Brustkrebsvorsorgeuntersuchung abgeklärt worden war. 

Die Entscheidung:

Der BGH bestätigte die Entscheidung des Oberlandesgerichts, das einen Befunderhebungsfehler des Arztes bejaht hatte. 

Dabei nahm der BGH auf seine bisherige Rechtsprechung Bezug und führte zu dem vorliegenden Fall aus:

Der für die Auswertung eines Befundes verantwortliche Arzt hat all die Auffälligkeiten zur Kenntnis und zum Anlass für die gebotenen Maßnahmen zu nehmen, die er aus berufsfachlicher Sicht seines Fachbereichs unter Berücksichtigung der in seinem Fachbereich vorausgesetzten Kenntnisse und Fähigkeiten sowie der Behandlungssituation feststellen muss. Diese Pflicht besteht erst recht dann, wenn, wie bei einem Mammographie-​Screening, Zweck der Untersuchung die Früherkennung einer Krebserkrankung ist und es sich um eine im Rahmen der Anamnese nachgefragte und angegebene Auffälligkeit (hier: Mamillenretraktion) handelt, die auf eben eine solche Krebserkrankung hindeuten kann.

Der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit ärztlichen Fehlverhaltens lag hier aus Sicht des BGH in der unterbliebenen Befunderhebung als solcher (und nicht in dem Unterlassen von Warnhinweisen zum Zwecke der Sicherstellung des Behandlungserfolgs = Aufklärungsfehler). 

Der BGH verwarf auch den Einwand der beklagten Radiologen, der vorbehandelnde Arzt hätte (im Rahmen der sog. horizontalen Arbeitsteilung) die Mamillenretraktion abklären müssen. Der BGH verneinte schon eine Arbeitsteilung, weil die Frauenärztin kurativ behandelte, während die Radiologen zur Krebsfrüherkennung tätig wurden und zwar ohne dass die Frauenärztin die Klägerin überwiesen hatte. Die Klägerin kam nämlich wegen einer allgemeinen turnusmäßigen Krebsfrüherkennungsuntersuchung zu den Beklagten. 

Praxisanmerkung:

Ist die medizinische Lage nicht eindeutig, sollte der Arzt im Zweifel weitere Diagnostik durchführen. Hier lag keine klare Situation vor, weil die Ursache der eingezogenen Brustwarze unklar war. Der Auftrag an den Arzt lautete auf Krebsfrüherkennung (Mammographie-​Screening). Bei diesem Auftrag muss der Arzt die unklare Situation weiter aufklären. Denn eine eingezogene Brustwarze kann - wie der Gerichtssachverständige ausführte - auch eine Folge einer Brustkrebserkrankung sein. 

Bei der Diagnostik gilt: Lieber zu viel als zu wenig. Wegen übermäßiger Diagnostik ist bisher noch kein Arzt bestraft worden (auch wenn es im Einzelfall dann zu abrechnungstechnischen Problemen kommen kann. 

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht Philip Christmann
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