(20.12.2019) Eine Kassenärztliche Vereinigung kann in der Vergangenheit bewilligte Befreiungen vom ärztlichen Bereitschaftsdienst (Notdienst) nicht einfach durch schlichte Änderung der Notdienstordnung aufheben. Es bedarf dazu einer Einzelfallentscheidung (Sozialgericht Mainz, Beschluss vom 12. September 2018 – S 3 KA 170/17). Die betroffenen, vom Notdienst ehemals durch Bescheid befreiten Ärzte (z.B. wegen gesundheitlicher Einschränkungen) bleiben damit vom Notdienst befreit.  

KV kann Befreiungen vom Notdienst nicht durch Änderung der Notdienstordnung aufhebenPraxisanmerkung:

Der ärztliche Notdienst findet oft auch abends oder nachts statt. Der verpflichtete Arzt muss entweder zu den Patienten fahren oder in besonderen Notdienstpraxen der KV Dienst leisten. Wegen der damit einhergehenden Belastungen kann ein Arzt eine Befreiung beantragen, beispielsweise aus familiären Gründen oder aus wirtschaftlichen Gründen, wenn zum Beispiel seine Praxis nicht gut läuft. Im vorliegnden Fall hatte ein niedergelassener Radiologe - aus welchen Gründen sagt die Entscheidung nicht - schon vor Jahren eine Befreiung vom Notdienst erhalten. Die zuständige KV änderte dann aber die Notdienstordnung und legte fest, dass allle bisher erteilten Befreiungen zu einem bestimmten Stichtatg ihre Gültigkeit verlören. Dagegen klagte der Arzt und bekam Recht: 

Eine Behörde könnne nicht unabhängig von den Fragen, ob eine Rücknahme, ein Widerruf oder eine Aufhebung des begünstigen Verwaltungsaktes der Befreiung möglich wäre und ob die Voraussetzungen für eine weitere Befreiung im jeweiligen Einzelfall weiterhin vorliegen, die Begünstigung einzelfallunabhängiog aufheben. Dies widerspreche dem gesetzlichen System, das in § 44 SGB X zum Ausdruck kommt, so das Sozialgericht Mainz. 

Mithin kann eine KV eine Befreiung nur im Einzelfall durch Bescheid aufheben, wenn zum Beispiel die gesundheitlichen Einschränkungen, die zu der Befreiung geführt haben, wieder weggefallen sind und der Arzt sich nicht auf Vertrauensschutz berufen kann. 

Ärzte, die also die Befreiung per Änderung der Notdienstordnung verlieren sollen, sind also gut beraten, sich dagegen gerichtlich zu wehren. 

 

Die Entscheidung im Wortlaut: 

Tenor

1. Der Bescheid der Beklagten vom 01.12.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.07.2017 wird aufgehoben.

2. Die Kosten des Verfahrens hat die Beklagte zu tragen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Verpflichtung des Klägers zur Teilnahme am ärztlichen Bereitschaftsdienst.

Der Kläger ist als Facharzt für Radiologie in W zur vertragsärztlichen Versorgung mit vollem Versorgungsauftrag zugelassen.

Mit Bescheid vom 22.12.2004 hatte die Beklagte den Kläger auf Grundlage von § 9 Abs. 1c BDO in der damals maßgeblichen Fassung von der Teilnahme am ärztlichen Bereitschaftsdienst unbefristet befreit.

Mit Bescheid vom 01.12.2016 informierte die Beklagte den Kläger darüber, dass nach der mit Beschluss der Vertreterversammlung am 16.03.2016 neu verabschiedeten Regelung des § 9 Abs. 10 BDO alle vor Inkrafttreten dieser BDO ausgesprochenen und beschiedenen Befreiungen längstens bis zum 31. Dezember 2016 ihre Gültigkeit behalten. Der Kläger sei daher ab dem 01.01.2017 dazu verpflichtet, wieder am Bereitschaftsdienst teilzunehmen.

Mit Schr. vom 16.12.2016 hat der Kläger Widerspruch eingelegt. Die neu geschaffene Rechtsgrundlage sei unwirksam. Darüber hinaus fehle es an einem formalen Akt der Aufhebung.

Mit Widerspruchsbescheid vom 13.07.2017 hat die Beklagte den Widerspruch des Klägers zurückgewiesen. Einer Rücknahme der Befreiung habe es nicht bedurft. Diese habe sich aufgrund der Vorschrift des § 9 Abs. 10 BDO gemäß § 39 Abs. 2 SGB X „auf andere Weise“ erledigt.

Mit Schriftsatz vom 10.08.2017 hat der Kläger die Klage erhoben. Diese begründet er im Wesentlichen mit seinem Vorbringen im Widerspruch.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 01.12.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides der Beklagten vom 13.07.2017 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung wiederholt sie im Wesentlichen ihr bisheriges Vorbringen.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist zulässig und begründet.

I. Die Klage ist zulässig. Sämtliche Sachentscheidungsvoraussetzungen liegen vor.

Statthafte Klageart ist eine Anfechtungsklage iSd § 54 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 SGB V. Nach dieser Vorschrift kann mittels einer Anfechtungsklage die Aufhebung eines Verwaltungsaktes begehrt werden. Ein Verwaltungsakt ist gemäß § 31 S. 1 SGB X jede Verfügung, Entscheidung oder andere hoheitliche Maßnahme, die eine Behörde zur Regelung eines Einzelfalles auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts trifft und die auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet ist. Diese Voraussetzungen liegen in Bezug auf das Schreiben der Beklagten vom 01.12.2016 vor. Insbesondere hat das Schreiben eine Regelung zum Gegenstand. Die Beklagte hat rechtsverbindlich festgestellt, dass die im Jahre 2004 ausgesprochene Befreiung des Klägers vom Bereitschaftsdienst auf Grundlage von § 9 Abs. 10 BDO ihre Gültigkeit verloren habe und der Kläger infolgedessen ab dem 01.01.2017 wieder zur Teilnahme verpflichtet sei (feststellender Verwaltungsakt).

Am Vorliegen der übrigen Sachentscheidungsvoraussetzungen bestehen keine Zweifel. Insbesondere wurde das Vorverfahren iSd §§ 83 ff. SGG wurde erfolglos durchgeführt und die Klage form- und fristgerecht (§ 87 SGG) erhoben.

II. Die Klage ist auch begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 01.12.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.07.2017 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.

1. Die von der Beklagten getroffene Feststellung ist unzutreffend und der streitgegenständliche Bescheid somit rechtswidrig. Die dem Kläger am 22.12.2004 ausgestellte Befreiung vom ärztlichen Bereitschaftsdienst hat sich nicht aufgrund der Vorschrift des § 9 Abs. 10 BDO zum 01.01.2017 „auf sonstige Weise“ erledigt (§ 39 Abs. 2 SGB X). Die zuvor benannte Vorschrift ist mit höherrangigem Recht – namentlich den §§ 44 ff. SGB X – nicht vereinbar und daher nichtig.

Den Kassenärztlichen Vereinigungen als Körperschaften des öffentlichen Rechts obliegt nach dem Gesetz die Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung. Zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben hat der Gesetzgeber die Kassenärztlichen Vereinigungen mit Selbstverwaltungsrechten ausgestattet, die unter anderem die Möglichkeiten autonomer Rechtssetzung gestatten (§§ 75, 77, 79, 81 SGB V). Bei den von den Kassenärztlichen Vereinigungen erlassenen Vorschriften handelt es sich um untergesetzliche Normen, die der Normverwerfungskompetenz der erkennenden Kammer unterfallen (exemplarisch zur Inzidentkontrolle untergesetzlicher Normen durch die Fachgerichtsbarkeit: BSG, Urteil vom 28. September 1993 – 1 RK 34/92 – juris). Verstoßen untergesetzliche Normen gegen höherrangiges Recht, sind diese nichtig. Dies folgt unmittelbar aus dem in Art. 20 Abs. 2, 3 GG normierten Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip (zu den rechtstheoretischen und verfassungsrechtlichen Grundlagen sowie Ihrer Umsetzung im Vertragsarztrecht monographisch Sickor, Normenhierarchie im Arztrecht, 2005).

Die Vorschrift des § 9 Abs. 10 BDO bestimmt, dass ausnahmslos alle Befreiungen, die in der Vergangenheit beschieden wurden, zum 31.12.2016 ihre Gültigkeit verlieren. Eines weiteren Umsetzungsaktes bedarf es nicht. Vielmehr ist die Norm nach ihrem Wortlaut selbstvollziehender Natur.

Damit hebelt § 9 Abs. 10 BDO die Bestimmungen der §§ 44 ff. SGB X und die in Ihnen zum Ausdruck kommenden Wertungen des unmittelbar demokratisch legitimierten Gesetzgebers aus, ohne dass eine gesetzliche Ermächtigung hierzu ersichtlich wäre.

Mit den §§ 44 ff. SGB X hat der Gesetzgeber ein ausdifferenziertes System entwickelt, das bestimmt, unter welchen Voraussetzungen Verwaltungsakte zurückgenommen, widerrufen oder aufgehoben werden können. Die Vorschriften verfolgen im Wesentlichen das Ziel, das Spanungsverhältnis konfligierender rechtsstaatlicher Grundsätze – namentlich etwa zwischen dem Grundsatz der Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns, dem Grundsatz des Vertrauensschutzes sowie dem Grundsatz der Rechtssicherheit – sachgerecht aufzulösen. Hierzu erfolgt eine Binnensystematisierung nach Fallkonstellationen: So wird etwa unterschieden, ob es sich um rechtmäßige oder rechtswidrige Verwaltungsakte handelt und ob diese ihre jeweiligen Adressaten begünstigt oder belastet haben. Je nach Konstellation wird mal dem einen, mal dem anderen Grundsatz Vorrang eingeräumt und die Voraussetzungen für eine Rücknahme, einen Widerruf oder eine Aufhebung entsprechend angepasst.

Die zuvor aufgezeigten gesetzgeberischen Wertungen werden von § 9 Abs. 10 BDO außer Kraft gesetzt: Die Vorschrift bestimmt die Unwirksamkeit aller beschiedener Befreiungen – unabhängig von den Fragen, ob eine Rücknahme, ein Widerruf oder eine Aufhebung nach den §§ 44 ff. SGB X möglich wäre und ob die Voraussetzungen für eine weitere Befreiung im jeweiligen Einzelfall weiterhin vorliegen. Den Adressaten wird eine begünstigende Rechtsposition genommen, ohne dass ihre berechtigten Interessen (insbesondere Vertrauensschutzaspekte) berücksichtigt werden.

Eine Ermächtigungsgrundlage, die die Beklagte in die Lage versetzt, von §§ 44 ff. SGB X abweichende Regelungen zu treffen, ist nicht ersichtlich.

2. Inwieweit es der Beklagten möglich wäre, die dem Kläger erteilte Genehmigung auf Grundlage von § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X aufzuheben, bedarf vorliegend keiner Entscheidung. Eine Aufhebung seitens der Beklagten ist nicht erfolgt. Wie sich dem Widerspruchsbescheid ausdrücklich entnehmen lässt, ging die Beklagte davon aus, dass es einer Rücknahme bzw. Aufhebung aufgrund der Vorschrift des § 9 Abs. 10 BDO nicht bedurfte.

III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG iVm § 154 Abs. 1 VwGO. Nach letztgenannter Vorschrift trägt der unterliegende Teil die Kosten des Verfahrens.

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht Philip Christmann
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