(14.5.2018) Ein Patient kann sich auch von einem nicht zugelassenen Psychotherapeuten auf Kosten seiner gesetzlichen Krankenversicherung behandeln lassen, wenn die Krankenversicherung es vorher versäumt hat, ihrer Aufklärungs- und Beratungspflicht gemäß §§ 13, 14 SGB I und ihrer Verpflichtung gemäß § 17 Abs. 1 Nr. 1 SGB I, nachzukommen und darauf hinzuwirken, dass jeder Berechtigte die ihm zustehenden Sozialleistungen zügig erhält und es dem Patienten deshalb nicht gelungen ist, mit den ihm zumutbaren Anstrengungen einen Therapieplatz bei einem zugelassenen behandlungsbereiten Leistungserbringer zu erlangen (Sozialgericht Berlin, Urteil vom 9. April 2018 – S 81 KR 1002/17). Die Entscheidung zeigt einen - wenn auch steinigen - Weg zur Kostenerstattung im Bereich der Psychotherapie auf. 

Erstattung der Kosten einer Psychotherapiebehandlung durch Krankenkasse?Der Fall:

Mit Schreiben vom 25. Januar 2017 stellte eine Frau (die spätere Klägerin), die unter einer rezidivierenden depressiven Störung leidet, bei ihrer gesetzlichen Krankenversicherung (die spätere Beklagte) einen Antrag auf ambulante Psychotherapie und Kostenerstattung nach § 13 Abs. 3 SGB V bei der Psychotherapeutin O. S.

Frau S. ist eine approbierte Psychotherapeutin in den Richtlinienverfahren tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und Psychoanalyse, verfügt jedoch nicht über eine Zulassung zur vertragspsychotherapeutischen Versorgung.

In dem Antrag gab die Klägerin an, sie habe sich am 9. und 16. Januar 2017 vergeblich um einen ersten Termin bei sechs verschiedenen zugelassenen (namentlich benannten) Psychotherapeuten bemüht. Bei Frau S. bestehe die Möglichkeit, kurzfristig mit der Behandlung zu beginnen. Eine dreimonatige Wartezeit auf einen Therapieplatz sei ihr wegen der deutlichen Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes nicht zumutbar. Dem Antrag beigefügt war überdies eine Bescheinigung des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. J. über die Notwendigkeit einer Psychotherapie. Mit Schreiben vom 27. Januar 2017 unterstützte die Psychotherapeutin S. den Antrag der Klägerin und teilte mit, dass sie nach EBM abrechne.

Mit Bescheid vom 3. Februar 2017 lehnte die Beklagte eine Kostenzusage für eine außergerichtliche Psychotherapie ab. Zugleich verwies sie auf die Möglichkeiten der Suche nach einem zugelassenen Leistungserbringer über die Internetseiten der Beigeladenen und über die Psychotherapeutenkammer Berlin. Die Beklagte benannte zudem acht zugelassene Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, die freie Therapieplätze gemeldet hätten.

Hiergegen legte die Klägerin Widerspruch ein. Sie übersandte unter anderem eine "Ärztliche Bescheinigung über die Dringlichkeit und Unaufschiebbarkeit einer Psychotherapie" des Arztes für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. B. Zudem machte sie geltend, bei den von der Beklagten angegebenen zugelassenen Psychotherapeuten habe es sich überwiegend um Verhaltenstherapeuten gehandelt, sie benötige jedoch eine psychoanalytische Therapie. Überdies sei kein einziger der angegebenen Therapeuten persönlich erreichbar gewesen. Eine Psychoanalyse bei einem männlichen Therapeuten komme bei ihr aus kulturellen Gründen nicht in Betracht und eine Fahrzeit von bis zu 90 Minuten zur Therapie sei ihr in Anbetracht ihrer Berufstätigkeit nicht zumutbar. Im April 2017 übersandte die Klägerin eine weitere Liste mit den Namen und Anschriften von elf zugelassenen Psychotherapeutinnen, bei denen sie sich am 9. und 10. April 2017 vergeblich um einen Termin bemüht habe. Die Therapeutinnen hätten lange Wartezeiten gehabt, seien nicht erreichbar gewesen oder hätten keine freien Therapieplätze gehabt oder nur eine Therapie im Kostenerstattungsverfahren angeboten. Überdies habe sich ihre gesundheitliche Lage weiter zugespitzt.

Die Entscheidung:

Das Sozialgericht gab der Klage - nach einer teilweisen außergerichtlichen Einigung zwischen der Klägerin und der Kasse - im wesentlichen statt und verpflichtete die Kasse zur Übernahme der Kosten für vier probatorische Sitzungen im Wege der Kostenerstattung. Es liege hier ein Systemversagen vor und daher habe die Klägerin das Recht, sich die Leistungen selbst zu beschaffen und sich die Kosten dann von der Kasse erstatten zu lassen. 

Maßgeblich waren dabei folgende Erwägungen:

  • Im Hinblick auf die Zumutbarkeit der Inanspruchnahme bestimmter Leistungserbringer werden etwa bei Vorliegen einer akuten und schwerwiegenden psychischen Erkrankung nur verhältnismäßig geringe Wartezeiten zumutbar sein, während im Normalfall für eine Richtlinienpsychotherapie ein Zeitraum von bis zu drei Monaten noch vertretbar erscheint
  • Im Normalfall werden Fahrwege von bis zu einer Stunde aber sicher zumutbar sein
  • den Versicherten können im Normalfall nicht mehr als 20 oder 30 erfolglose Anfragen abverlangt werden
  • An die von der Kassenärztlichen Vereinigung gemäß § 75 Abs. 1a SGB V einzurichtende Terminservicestelle müssen sich Versicherte bei nicht zweifelhaften Anspruch auf eine Richtlinienpsychotherapie nicht wenden
  • Wendet sich der Versicherte an seine Krankenkasse und macht er glaubhaft geltend, bei einer größeren Anzahl von (zumutbaren) Leistungserbringern erfolglos nach freien Kapazitäten gesucht zu haben, muss die Krankenkasse von sich aus tätig werden und den Versicherten bei der Therapeutensuche aktiv unterstützen, indem sie etwa von sich aus mit zugelassenen Leistungserbringern in Kontakt tritt und nach freien Kapazitäten fragt. Sie kann sich hierbei ihrer Verantwortung, für eine zeitnahe Versorgung der Versicherten mit notwendigen medizinischen Leistungen Sorge zu tragen (vgl. auch § 17 Abs. 1 Nrn. 1 und 2 SGB I) auch nicht durch einen Hinweis auf den Grundsatz der freien Arzt- bzw. Therapeutenwahl (§ 76 Abs. 1 Satz 1 SGB V) entziehen
  • Die Klägerin benötigt nach den vorliegenden medizinischen Unterlagen grundsätzlich eine psychotherapeutische Behandlung
  • Die Klägerin hat sich von sich aus erfolglos an insgesamt 23 zugelassene Psychotherapeutinnen und auch Psychotherapeuten gewandt. Soweit diese für sie geeignet waren, hat sich die Klägerin überdies auch erfolglos an die von der Beklagten benannten Leistungserbringer gewandt. Diese schieden jedoch überwiegend bereits deshalb aus, weil und soweit es sich – was die Beklagte nicht bestreitet – ausschließlich um Verhaltenstherapeuten handelte, bei der Klägerin jedoch eine psychoanalytische Therapie indiziert ist
  • Die Klägerin hat sich auch nicht unerlaubterweise auf einen Behandler festgelegt, sondern wollte überhaupt eine Therapeutin oder einen Therapeuten finden und war bereit, an der Suche nach einem geeigneten zugelassenen Leistungserbringer aktiv mitzuwirken, wenn sie hierbei von der Beklagten unterstützt wird
  • Eben diese Unterstützung haben ihr sowohl die Beklagte als auch die beigeladene Kassenärztliche Bundesvereinigung zumindest im Klageverfahren nahezu vollständig verweigert: Die Beklagte hat sich lediglich bei dem von ihr betriebenen Centrum für Gesundheit nach einem Therapieplatz für die Klägerin erkundigt, zuletzt aber explizit mitgeteilt, dass dort derzeit aus Kapazitätsgründen keine Psychoanalyse für die Klägerin angeboten werden könne. Weitere geeignete und leistungsbereite Leistungserbringer, die der Klägerin zeitnah eine Therapie anbieten können, haben weder die Beklagte noch die Beigeladene benannt, obwohl sie vom Gericht ausdrücklich darum gebeten wurden. Die Beklagte hat sich damit ihrer Sachleistungsverantwortung gegenüber der Klägerin vollständig entzogen, weshalb es dieser schlussendlich auch nicht zum Vorwurf gemacht werden kann, dass ihre Suche zwischenzeitlich die erforderliche Ernsthaftigkeit hat vermissen lassen. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Frage, ob ein Systemversagen vorliegt, ist der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung.

Praxisanmerkung:

Die Entscheidung des Sozialgerichts zeigt, dass es den Krankenkasse oftmals gar nicht möglich ist, freie Psychotherapeuten zu finden. Anders ist es kaum zu erklären, dass die beklagte Kasse und auch die KV selbst nach gerichtlicher Bitte keine freien Behandler nennen konnten. Das Sozialgericht benennt auch die Gründe dafür:

  • "faktische" Unterversorgung
  • unzureichende Koordinierung der Vergabe freier Kapazitäten
  • teilweise Nichterfüllung des Versorgungsauftrages durch zugelassene Psychotherapeuten

Zugleich zeigt die Entscheidung, dass der Weg zur Kostenerstattung ein steiniger ist: Der Patient muss erhebliche Eigenarbeiten erbringen und mindestens zwanzig potentielle Behandler erfolglos kontaktieren um in den Genuss der ausnahmsweisen Kostenerstattung zu kommen.

Langfristig wird das akute Problem der faktischen Unterversorgung in Berlin mit zugelassenen Psychotherapeuten bei gleichzeitiger formeller Überversorgung nur durch eine neue, genaue Bedarfsanalyse und -planung zu lösen sein. Bei dieser sollten die Fallzahlen der zugelassenen Psychotherapeuten genau geprüft werden, um underperformer mit voller Zulassung zu identifizieren und unter Androhung der Zulassungsentziehung entweder zur Erfüllung des Fachgruppendurchschnitts zu motivieren oder ihre Zulassungen zu halbieren.  

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht Philip Christmann
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