(5.6.2017) Bietet eine überörtliche anästhesistische Praxis eine telefonische 24-Stunden-Rufbereitschaft bei Komplikationen an, so darf sie die Telefondienste nach GOP 01100 EBM-Ä abrechnen (Sozialgericht München, Urteil vom 15. Mai 2017 – S 38 KA 305/15).  

Abrechnung von NotdienstenZusammenfassung:

In einer überörtlichen anästhesistischen Gemeinschaftspraxis erbringen mehrere Anästhesisten ihre Tätigkeit im Umherziehen. Eigene Sprechstunden halten sie nicht ab. Auf der Website der Praxis bieten sie eine funktelefonische 24-Stunden-Rufbereitschaft bei Komplikationen an. Die erbrachten Telefondienste rechnete sie nach GOP 01100 EBM-Ä ab.

Die beklagte KV hielt dies für implausibel.

Das Sozialgericht München bestätigte die Abrechnung der klagenden Praxis.

Bietet eine überörtliche anästhesistische Praxis, deren Ärzte keine eigene Sprechstunde abhalten, eine telefonische 24-Stunden-Rufbereitschaft bei Komplikationen an, so liege eine besondere Situation vor und die Praxis dürfe die Telefondienste nach GOP 01100 EBM-Ä abrechnen. Denn dann liege keine "Dienstsituation" vor. 

Tenor

I. Die Honorarrückforderungsbescheide aus den Plausibilitätsprüfungen 2/08 bis 2/11 jeweils in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 25.02.2015 werden aufgehoben.

II. Die Beklagte trägt die Kosten der Verfahren, soweit sie sich nicht auf die von der Klagerücknahme umfassten Teile beziehen.

Tatbestand

Gegenstand der in der mündlichen Verhandlung am 15.05.2017 verbundenen vier Verfahren nach teilweiser Klagerücknahme sind die Plausibilitätsprüfungen in den Quartalen 2/2008 bis einschließlich Quartal 2/2011 im Zusammenhang mit dem Ansatz der Gebührenordnungsposition (GOP) 01100 EBM-​Ä. In den Ausgangsbescheiden in der Fassung der Widerspruchsbescheide, jeweils vom 25. Februar 2015 vertrat die Beklagte die Auffassung, der Ansatz der GOP 01100 EBM-​Ä sei implausibel. Die Vertragsärzte hätten gegen ihre Pflicht zur peinlich genauen Abrechnung verstoßen. Es handle sich nicht um eine unvorhergesehene Inanspruchnahme. Unter Hinweis auf die Entscheidung des Sozialgerichts München vom 240.9.2014 (Az. S 21 KA 1354/14) wurde ausgeführt, unvorhergesehen sei die Inanspruchnahme des Vertragsarztes, wenn dieser zum Zeitpunkt der Inanspruchnahme nicht damit rechne, vertragsärztliche Leistungen zu erbringen, er also nicht in einer Dienstsituation in Anspruch genommen werde. Diese Dienstsituation könne entweder aufgrund einer Sprechstunde oder aufgrund eines angeboten Notdienstes bestehen oder deshalb, weil der Patient für die Behandlung am Sonntag bestellt war. In einer ersten Stellungnahme des Prozessbevollmächtigten sei die Rede von einem Bereitschaftsdienst oder einem 24 Stunden Notdienst gewesen. Auffällig sei auch, dass die Abrechnung der GOP 01100 EBM-​Ä meistens in Zusammenhang mit anderen Gebührenordnungsziffern, nämlich mit den GOP´s 05230, 40144 und 01602 EBM-​Ä und zwar am Tag nach der Operation erfolge. Im Übrigen müsse die Initiative vom Patienten aus gehen, nicht von einem anderen Arzt.

Dagegen ließ die Klägerin, eine überörtliche Gemeinschaftspraxis auf dem Gebiet der Anästhesiologie vier Klagen zum Sozialgericht München einlegen. Die Prozessbevollmächtigten vertraten die Auffassung, die angefochtenen Bescheide seien rechtswidrig und verletzten die Klägerin in ihren Rechten.

Das Vorhalten einer Erreichbarkeit über ein Mobiltelefon könne nicht mit der einer Inanspruchnahme im Rahmen von Dienstsituationen, insbesondere in organisierten Sprechstunden verglichen werden. Die Behandlung jedes Patienten sei unvorhergesehen, nicht beabsichtigt und nicht geplant gewesen. Insbesondere sei die Situation der Klägerin nicht vergleichbar mit dem Sachverhalt, der der Entscheidung des Landessozialgerichts Hamburg vom 07.06.2012 (Az. L 1 KA 59/09) zu Grunde gelegen habe. Dort hätten Ärzte im Ärzteverbund den hausärztlichen Notdienst als Bereitschaftsdienst organisiert. Die Situation der Klägerin sei vielmehr vergleichbar mit der eines Hausarztes, der zur Unzeit telefonisch kontaktiert und aufgesucht werde. Würde man der Auffassung der Beklagten folgen, hätte dies zur Folge, dass die Klägerin mangels Teilnahme am organisierten Notfalldienst auch die Notfallpauschale oder die Notfall-​Konsultationspauschalen nicht abrechnen könne. Ihr Aufwand bleibe somit vollkommen entschädigungslos. Auch aus einer Nebeneinanderabrechnung der GOP´s 05230, 40144 und 01602 EBM-​Ä könne nicht auf eine Implausibilität der GOP 01100 EBM-​Ä geschlossen werden. So würden die Patienten in der Praxis des Operateurs aufgesucht, wo auch die Durchführung der Narkose stattfinde. Dafür rechneten die Anästhesisten die GOP´s 05230, 40144 und 01602 EBM-​Ä ab. Sofern der Patient nach einem ambulanten Eingriff zuhause Beschwerden verspüre und daraufhin einen Anästhesisten der Klägerin kontaktiere, werde die GOP 01100 EBM-​Ä für diese Behandlung berechnet. Es finde daher zwischen den Leistungen eine zeitliche Zäsur statt. Im Übrigen beziehe sich die postoperative Betreuung des Operateurs auf die Grundversorgung, während die Klägerin im Bedarfsfall schmerztherapeutisch tätig werde. Dass sich Patienten an die Anästhesisten wenden würden, sei dem Umstand geschuldet, dass den Patienten bekannt sei, dass der Anästhesist für die Schmerztherapie zuständig sei. Soweit die Beklagte darauf abstellen wolle, ob der Arzt mit seiner Inanspruchnahme rechnen könne, handle es sich um ein untaugliches Kriterium.

In ihrer Klageerwiderung machte die Beklagte darauf aufmerksam, es sei entscheidend, ob der Arzt damit rechnen konnte, vom Patienten zur Unzeit in Anspruch genommen zu werden. Die Klägerin habe sich bereit erklärt, rund um die Uhr zur Verfügung zu stehen. Bei diesem Service musste die Klägerin damit rechnen, in Anspruch genommen zu werden. Nochmals sei auf die Entscheidungen des Landessozialgerichts Hamburg und Sozialgerichts München (Landessozialgerichts Hamburg vom 07.06.2012, Az. L 1 KA 59/09; SG München, Urteil vom 24.09.2014, Az. S 21 KA 1354/14) hinzuweisen. Das beworbene Serviceangebot entspreche nicht der Situation eines Hausarztes, der außerhalb der Sprechstunde und ohne einen 24-​Stunden-​Dienst anzubieten, außerplanmäßig kontaktiert werde. Nicht nachvollziehbar sei auch, dass sich die Patienten bei Beschwerden an die Anästhesisten wenden würden, anstatt an den behandelnden Arzt. Es sei zu vermuten, dass das Serviceangebot der Klägerin auf eine Absprache mit dem Operateur und den Patienten als Ansprechpartner zurückgehe.

Wer bewusst, geplant und organisiert die postoperative Betreuung übernehme und dies auch so kommuniziere, befinde sich in einer Dienstsituation, d.h. er sei ständig auf „Abruf“.

Nach Auffassung der Klägerseite sind die angeführten Beispiele unpassend. Denn auch für den Hausarzt, der den Patienten darauf hinweise, er könne sich im Fall der Verschlechterung des Zustandes bei ihm melden, sei die Inanspruchnahme vorhersehbar.

In der mündlichen Verhandlung am 15.05.2017 wies der Vertreter der Beklagten auf den Schriftsatz der Klägerin vom 20.06.2011 hin. Dort sei die Aussage gemacht worden, dass nach einem Eingriff auch an den folgenden Tagen mit einer Inanspruchnahme zu rechnen sei und dass die Anästhesie-​Gemeinschaft dafür eigens einen Bereitschaftsdienst vorhalte.

Abweichend von den ursprünglichen Anträgen im Schriftsatz vom 07.10.2015 beantragte die Prozessbevollmächtigte der Klägerin, die Honorarrückforderungsbescheide jeweils in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.02.2015 aufzuheben, soweit sich die Rückforderung auf die Leistungen der GOP 01100 EBM-​Ä bezieht.
Der Vertreter der Beklagten beantragte, die Klagen abzuweisen.

Beigezogen und Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren die Beklagtenakten. Im Übrigen wird auf den sonstigen Akteninhalt, insbesondere die Schriftsätze der Beteiligten, sowie die Sitzungsniederschrift vom 15.05.2015 verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die zum Sozialgericht München eingelegten Klagen sind zulässig und erweisen sich auch als begründet. Die Bescheide sind als rechtswidrig anzusehen.

Die Beklagte ist zuständig für die in den Quartalen 2/08 bis einschließlich 2/11 vorgenommenen Plausibilitätsprüfungen. Rechtsgrundlagen hierfür sind §§ 75 Abs. 1, 83 S. 1, 106a SGB V in Verbindung mit § 7 Abs. 1 Gesamtvertrag-​Primärkassen bzw. § 8 Gesamtvertrag-​Ersatzkassen in Verbindung mit der Anlage 8. Danach überprüft die Kassenärztliche Vereinigung Bayerns in geeigneten Fällen die Richtigkeit der Abrechnung nach ihrer Plausibilität. Abrechenbar und vergütungsfähig sind nur solche Leistungen, die in Übereinstimmung mit den für die vertragsärztliche Versorgung geltenden Vorschriften, vor allem dem EBM, dem HVV bzw. dem HVM erbracht werden. Wird eine Implausibilität festgestellt, erfolgt die Rückforderung der zu Unrecht abgerechneten Leistungen gemäß § 50 Abs. 1 SGB X.

Strittig zwischen den Beteiligten ist nunmehr (nach teilweiser Klagerücknahme) lediglich, ob sie Vertragsärzte, die der überörtlichen Gemeinschaftspraxis angehören, die GOP 01100 EBM-​Ä zu Recht in Ansatz gebracht haben.

Nach gefestigter Rechtsprechung der Sozialgerichte (BSG, Urteil vom 30.11.2016, Az. B 6 KA 17/15 R) ist in erster Linie der Wortlaut der Leistungslegende maßgeblich. Hintergrund hierfür ist, dass es vorrangige Aufgabe des Normgebers des EBM-​Ä, des Bewertungsausschusses gemäß § 87 Abs. 1 SGB V ist, die unterschiedlichen Interessen von Ärzten und Krankenkassen zu einem Ausgleich zu führen und Unklarheiten zu beseitigen. Des Weiteren handelt es sich bei dem EBM-​Ä um ein abschließendes Regelwerk, das keine Ergänzung, Lückenfüllung oder Analogie zulässt. Ist der Wortlaut nicht eindeutig und zweifelhaft, so dass es einer Klarstellung bedarf, sind andere Auslegungsregelungen, so eine systematische Interpretation im Sinne einer Gesamtschau der in innerem Zusammenhang stehenden vergleichbaren und ähnlichen Leistungstatbestände und eine entstehungsgeschichtliche Auslegung, anzuwenden.

Die GOP 01100 EBM-​Ä lautet wie folgt:

„Unvorhergesehene Inanspruchnahme des Vertragsarztes durch einen Patienten

- zwischen 19:00 Uhr und 22:00 Uhr

- an Samstagen, Sonntagen und gesetzlichen Feiertagen, am 24.12. und 31.12. zwischen 7:00 und 19:00 Uhr“

Die GOP ist mit der Anmerkung versehen, dass sie nicht berechnungsfähig ist, wenn Sprechstunden vor 07:00 Uhr oder nach 19:00 Uhr stattfinden oder Patienten zu diesen Zeiten gestellt werden.

Die Leistungslegende der GOP 01100 EBM-​Ä ist zwar insofern klar und eindeutig, als sie zwar konkrete Tage bzw. Zeiten nennt, an denen die Gebührenordnungsposition nicht in Ansatz gebracht werden kann. Sie enthält aber mit der Begrifflichkeit „Unvorhergesehene Inanspruchnahme“ einen unbestimmten Rechtsbegriff, der unklar ist und deshalb nach Maßgabe der oben genannten Auslegungsregelungen auszulegen ist.

Bei einer Berufsausübungsgemeinschaft, deren Ärzte einen hausärztlichen Notfalldienst in einer Notfallambulanz der Klinik anboten, kam das Landessozialgericht Hamburg (Urteil vom 07.06.2012, Az. L 1 KA 59/09) zu dem Ergebnis, es liege keine unvorhergesehene Inanspruchnahme des Vertragsarztes durch einen Patienten im Sinne der GOP 01100 EBM-​Ä vor, wenn dieser das vom Vertragsarzt vorgehaltene Angebot einer Notfallsprechstunde annehme. In den Urteilsgründen wurde wie folgt ausgeführt: „Zu unterscheiden ist nämlich zwischen der Initiierung einer Notfallbehandlung durch den Patienten, der unvorhergesehen ärztlicher Behandlung bedarf, und der Frage, ob diese Inanspruchnahme ärztlicher Behandlung durch den Patienten für den Arzt unvorhergesehen ist zu einer Zeit, in der er an einem unter seiner Mitwirkung bereitgestellten Notfalldienst teilnimmt. Der medizinische Fall mag unvorhergesehen sein, die Inanspruchnahme des Arztes ist es nicht.“ Als echte Anwendungsfälle blieben Fälle unvorhergesehener Inanspruchnahme außerhalb des Sprechstundenangebots oder der Teilnahme an einem Notfalldienst, zum Beispiel der nächtliche Anruf von Patienten beim Haus-​oder Kinderarzt des Vertrauens.

In einem weiteren Verfahren hatte sich das Landessozialgericht Hamburg ebenfalls mit der GOP 01100 EBM-​Ä zu befassen (LSG Hamburg, Urteil vom 25.04.2013, Az. L 1 KA 5/12). Klägerin war ein Krankenhaus, das ermächtigt war, in seiner geburtshilflichen gynäkologischen Klinik als ärztlich geleitete Einrichtung für die an sprechstundenfreien Tagen unbedingt notwendige Überwachung von Schwangeren mit Terminüberschreitung auf Überweisung durch Gynäkologen an der vertragsärztlichen Versorgung im Bezirk der Beklagten teilzunehmen. Das Landessozialgericht Hamburg kam zu dem Ergebnis, dass in diesem Fall die Leistungslegende der 01100 EBM-​Ä nicht erfüllt sei. Konkret wurde wie folgt ausgeführt: „ Es ist keine unvorhergesehene Inanspruchnahme des Vertragsarztes bzw. hier der ermächtigten ärztlich geleiteten Einrichtung durch Patienten, wenn diese das vorgehaltene Angebot der Einrichtung annehmen, sich dort zu Zeiten behandeln zu lassen, die ansonsten üblicherweise sprechstundenfrei sind. Da die Klägerin gerade und ausschließlich zu diesem Zeitpunkt ihre Dienste anbietet und ihr auf ihren Antrag hin auch nur für diese Zeiten die Ermächtigung erteilt worden ist, an der vertragsärztlichen Versorgung teilzunehmen, ist die Behandlung eines Patienten während dieser Zeiträume nicht unvorhergesehen, sondern beabsichtigt und geplant. Diese Zeiten sind die normalen Dienstzeiten der Klägerin, so dass die Inanspruchnahme nicht außerhalb von diesen Zeiten stattfindet.“

Auch das Sozialgericht München (Urteil vom 24.09.2014, Az. S 21 KA 1354/12) hat in diesem Sinne entschieden. Es komme darauf an, ob sich der Kläger zum Zeitpunkt der Behandlung in einer Dienstsituation befunden habe und mit seiner Inanspruchnahme, etwa im Rahmen einer Sprechstunde gerechnet habe. Dabei seien nicht nur Sprechstundenzeiten zu berücksichtigen, die der Kläger der Beklagten gemeldet und auf seinem Praxisschild oder in anderer Weise veröffentlicht habe, sondern auch faktische Sprechstunden. Eine faktische Sprechstunde liege vor, wenn die Praxis generell für alle Patienten geöffnet gewesen sei. Die Initiative für die Inanspruchnahme des Arztes müsse allein von den Patienten ausgehen. Nur dann sei von einer unvorhergesehenen Inanspruchnahme des Arztes im Sinne der GOP 01100 EBM-​Ä auszugehen.

Unstrittig ist somit, dass der Ansatz der GOP 01100 EBM-​Ä nicht möglich ist, wenn zwar die Inanspruchnahme des Arztes durch den Patienten zu den in der Leistungslegende genannten Zeiten stattfindet, jedoch innerhalb der Sprechstunde. Die vorgenannte Rechtsprechung, der sich die 38. Kammer des Sozialgerichts München anschließt, geht noch darüber hinaus, indem sie auch bei einem von Ärzten eingerichteten hausärztlichen Notfalldienst in einer Notfallambulanz der Klinik, bei einem Anbieten von Diensten zu Zeiten, für die eine Ermächtigung erteilt wurde, sowie beim Abhalten einer faktischen Sprechstunde nicht von einer unvorhergesehenen Inanspruchnahme des Arztes/der Einrichtung ausgeht, was den Ansatz der GOP 01100 EBM-​Ä ausschließt.

Nach Auffassung der Kammer ist die Situation der Klägerin aber nicht mit der in den bereits von der Rechtsprechung entschiedenen Fällen vergleichbar. Ausgangspunkt der Überlegungen ist, dass der Normgeber des EBM-​Ä, der Bewertungsausschuss davon ausgeht, dass grundsätzlich alle ärztlichen Leistungen im Rahmen der Sprechstundentätigkeit erbracht werden können. Ist dies nicht der Fall, zum Beispiel weil eine Erkrankung des Patienten zur Unzeit auftritt, zu der regelmäßig kein Praxisbetrieb stattfindet, soll eine unvorhergesehene Inanspruchnahme des Arztes durch die GOP 01100 EBM-​Ä abgegolten werden. Nach der oben genannten Rechtsprechung ist die Inanspruchnahme nicht unvorhersehbar und deshalb die GOP 01100 EBM-​Ä dann nicht anzusetzen, wenn vom Arzt Leistungen bewusst, geplant und organisiert außerhalb der Sprechstunden angeboten werden, die der Patient annimmt (beispielsweise Einrichtung eines organisierten Notfalldienstes). Damit sei eine Dienstsituation verbunden. Der leistungserbringende Arzt müsse mit einer Inanspruchnahme rechnen, so dass für ihn die Inanspruchnahme vorhersehbar sei.

Zwar enthält die Homepage der Klägerin mehrfach den Hinweis auf einen Bereitschaftsdienst bzw. Rufbereitschaftsdienst. So wird unter der Überschrift „ Unsere Leistungen im Überblick“ eine „ 24-​Stunden fachärztliche Rufbereitschaft für Patienten“ unter Angabe einer Mobiltelefonnummer genannt. Auf der für Patienten bestimmten Infoseite mit der Überschrift „Der Ablauf Ihrer Operation“ ist „Bei Komplikationen“ die Bereitschaftsdienstnummer der Anästhesiepraxis aufgeführt. Ein Hinweis auf die „24-​Stunden Rufbereitschaft“ mit Angabe der Mobiltelefonnummer findet sich auch auf der Seite im Nachgang der Nennung verschiedener OP-​Zentren. Schließlich richtet sich die Klägerin auch an die „Hausärzte“ und bringt zum Ausdruck, diese könnten sich auch bei Fragen gerne an den Bereitschaftsdienst wenden.

Ohne Frage bewirbt die Klägerin vor allem gegenüber den Patienten ihren „24-​Stunden“ Dienst, stellt diese aber auf der Homepage nicht in den Vordergrund ihrer Tätigkeit.

Die Besonderheit in dem streitgegenständlichen Fall besteht aber darin, dass es sich bei der Klägerin um eine überörtliche anästhesistische Gemeinschaftspraxis handelt, die – wie die meisten anästhesistischen Praxen - keine Sprechstunden abhält. Ihre Tätigkeit beinhaltet die Erbringung von anästhesistischen Leistungen alio loco und die Zusammenarbeit und das Aufsuchen von Praxen, Zentren und Kliniken, in denen Operationsleistungen stattfinden. Nachdem die Klägerin keine Sprechstunden im eigentlichen Sinne erbringt, hat sie auch keine Möglichkeit, die Patienten auf eine Inanspruchnahme zu normalen Sprechstundenzeiten zu verweisen. Die bisher von der Rechtsprechung aufgestellten Grundsätze können daher nur bedingt herangezogen werden. Es haben somit andere Maßstäbe zu gelten.

Auch wenn die Klägerin in Ihrem Schreiben vom 20.06.2011 selbst davon spricht, es sei nach dem Eingriff an den folgenden Tagen mit einer Inanspruchnahme zu rechnen, wofür die Anästhesie-​Gemeinschaft einen Bereitschaftsdienst vorhalte, liegt nach Auffassung des Gerichts im Hinblick auf die konkrete anästhesiologische Tätigkeit der Klägerin, wie sie oben beschrieben wurde, keine solche Dienstsituation vor, die mit der eines normalen Bereitschafts-​/Notfalldienstes vergleichbar wäre. Es handelt sich nach Auffassung des Gerichts um ein bloßes Serviceangebot der Klägerin und an sich um eine Selbstverständlichkeit in unmittelbarem und engem Zusammenhang mit der operativen Tätigkeit, die den operierten Patienten zu Gute kommt, falls nach dem Eingriff Komplikationen entstehen. In diesem Lichte ist der Begriff „unvorhersehbare Inanspruchnahme“ zu interpretieren und deshalb hier weiter auszulegen. Demjenigen, der, wie die Klägerin selbst keine Sprechstunden abhält, kann deshalb auch nicht der Vorwurf gemacht werden, er halte eine faktische Sprechstunde ab, indem er den Patienten für den Fall, dass Komplikationen nach der Operation auftreten, die Information mit Angabe einer Mobiltelefonnummer gibt, er sei erreichbar.

In diesem Zusammenhang weist das Gericht ausdrücklich darauf hin, dass bei ähnlicher Bewerbung durch andere Facharztgruppen nach wie vor von einer unvorhergesehenen Inanspruchnahme auszugehen wäre.

Soweit die Beklagte die Implausibilität der GOP 01100 EBM-​Ä auch dadurch verdeutlichen will, die Klägerin habe daneben auch andere Gebührenordnungsziffern, so die GOP´s 05230, 40144 und 01602 EBM-​Ä (Nebeneinanderabrechnung) abgerechnet, hat die Klägerin nach Auffassung des Gerichts sowohl schriftsätzlich, als auch in der mündlichen Verhandlung am 15.05.2017 nachvollziehbare Erklärungen abgegeben. Danach würden Patienten in der Praxis des Operateurs aufgesucht, wo auch die Durchführung der Narkose stattfinde. Dafür rechneten die Anästhesisten die GOP 05230, 40144 und 01602 EBM-​Ä ab. Sofern der Patient nach einem ambulanten Eingriff zuhause Beschwerden verspüre und daraufhin einen Anästhesisten der Klägerin kontaktiere, werde die GOP 01100 EBM-​Ä für diese Behandlung berechnet. Es finde daher zwischen den Leistungen eine zeitliche Zäsur statt. Zwar ist einzuräumen, dass der Nebeneinander-​Ansatz auf den ersten Blick nicht nachvollziehbar ist, sich aber letztendlich durch die oben beschriebene Tätigkeit erklärt. Mit entsprechenden Uhrzeitangaben könnten etwaige Zweifel von vornherein ausgeräumt werden.

Auch ist aus dem Umstand, dass sich die Patienten offensichtlich vorrangig an die Klägerin wenden, und nicht an den Operateur, keine Implausibilität abzuleiten. Dies kann mannigfache Gründe haben, auch den Grund, dass den meisten Patienten bekannt ist, dass der Anästhesist in erster Linie für die Schmerztherapie zuständig ist.

Schließlich stellt sich die Äußerung der Beklagten, das Angebot der Klägerin gehe auf eine Absprache mit dem Operateur und den Patienten als Ansprechpartner zurück, als bloße Vermutung heraus, für deren Richtigkeit es keinerlei Anhaltspunkte gibt.

Aus den genannten Gründen konnte die von der Klägerin (Anm.: richtigerweise muss es "der Beklagten" heißen) vorgenommene Plausibilitätsprüfung keinen Bestand haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG i.V.m. § 154 VwGO.

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht Philip Christmann
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