(31.10.2016) Mit dem Blasensprung kann eine Änderung der Risikosituation für das Kind bei einer Vaginalentbindung eintreten, weil das intakte Fruchtwasserkissen eine gewisse abfedernde Wirkung hat, was auch dem Zweck dient, mechanische Belastungen zu reduzieren. Platzt die Fruchtblase vorzeitig, hat der Arzt die Schwangere zur Wahrung ihres Selbstbestimmungsrechts und ihres Rechts auf körperliche Unversehrtheit über das veränderte Nutzen-Risiko-Verhältnis - beispielsweise über nachträglich eingetretene oder erkannte Risiken der von ihr gewählten Entbindungsmethode - zu informieren und ihr eine erneute Abwägung der für und gegen die jeweilige Behandlungsalternative sprechenden Gründe zu ermöglichen. Andernfalls kann ein Aufklärungsfehler vorliegen (BGH, Beschluss vom 13. September 2016 – VI ZR 239/16). 

nochmalige ärztliche Aufklärung über Möglichkeit einer Schnittentbindung (sectio)Der Fall: 

Die Mutter des Klägers wurde am 27. Januar 2005 nach 29 + 2 Schwangerschaftswochen wegen vorzeitiger Wehen in dem von der Beklagten betriebenen Krankenhaus stationär aufgenommen. Während der Schwangerschaft waren bei ihr wiederholt Nierenbeckenentzündungen aufgetreten. Außerdem litt sie unter Schwangerschaftsdiabetes. Am Tag ihrer stationären Aufnahme wurden Entzündungsparameter nachgewiesen. Die Leukozyten und der CRP-Wert waren deutlich erhöht. Bei einer Sonographie der Nieren wurde ein Harnstau auf beiden Seiten festgestellt. Der Mutter des Klägers wurden wehenhemmende Mittel und Antibiotika verabreicht. Darüber hinaus erfolgte eine medikamentöse Induktion der fetalen Lungenreife durch zweimalige Verabreichung von Celestan. Die Mutter des Klägers wurde außerdem über die Möglichkeit eines Kaiserschnitts aufgeklärt. Sie entschied sich für eine vaginale Entbindung.

Nach einem vorzeitigen Blasensprung in den frühen Morgenstunden des 9. Februar 2005 wurden die wehenhemmenden Mittel abgesetzt und die Mutter des Klägers unter fortlaufender CTG-Registrierung an einen Wehentropf angeschlossen. Ab 15.50 Uhr verzeichnete das CTG einen zunehmend auffälligen Verlauf der fetalen Herzfrequenz. Ab etwa 16.25 Uhr zeigte das CTG ein pathologisches Muster. Um 16.42 Uhr fassten die behandelnden Ärzte den Entschluss zur Notsectio. Der Kläger wurde um 16.59 Uhr geboren und musste reanimiert werden. Bis zum 18. Februar 2005 wurde er beatmet. Wegen verschiedener subarachnoidaler und epikranieller Blutungen, akuten Nierenversagens, Leberinfarkts, Cholestase bei Leberinfarkt und Hämolyse sowie akuter Blutungsanämie und cerebralen Krampfanfällen ist er schwerstbehindert. Eine histologische Untersuchung der Plazenta nach der Geburt des Klägers ergab das Vorliegen einer akuten eitrigen Chorioamnionitis bei der Mutter des Klägers.

Die Entscheidung:

Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers (Kind) wendet sich mit Erfolg gegen die Beurteilung des Berufungsgerichts im nunmehr angefochtenen (klageabweisenden) Urteil, die Entscheidungsgrundlage für die Beurteilung der Frage, ob eine Sectio (Kaiserschnittgeburt) oder eine vaginale Entbindung durchgeführt werden sollte, habe sich nach dem 27. Januar 2005 nicht entscheidend verändert. Sie beanstandet zu Recht, dass das Berufungsgericht, wesentliche, dem Kläger günstige Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen Prof. Dr. St. in der mündlichen Verhandlung vom 15. Oktober 2015 unberücksichtigt gelassen hat.

Prof. Dr. St. hatte angegeben, nach dem Blasensprung sei eine Änderung der Risikosituation im Vergleich zum 27. Januar 2005 eingetreten. Bei dem Aufklärungsgespräch am 27. Januar 2005 habe zwar die Möglichkeit einer Frühgeburt bestanden. Diese sei aber noch nicht konkret gewesen. Bei dem Aufklärungsgespräch habe die Situation auf eine Harnwegsinfektion hingedeutet. Ein Harnwegsinfekt führe aber in der Regel nicht zu einem Blasensprung. Auf die Frage, ob sich die mechanische Belastung durch den Blasensprung verändert habe, gab der Sachverständige an, dass bei einer vaginalen Frühgeburt die Prämisse bestehe, die Blase nach Möglichkeit stehen zu lassen. Das Fruchtwasserkissen habe eine gewisse abfedernde Wirkung, was auch dem Zweck diene, mechanische Belastungen zu reduzieren. Frühgeburten seien besonders sensibel im Hinblick auf mechanische Belastungen. Er selbst hätte nach dem Blasensprung nochmals aufgeklärt.

Praxisanmerkung:

Um der Mutter eine vollständige Risikoeinschätzung zu ermöglichen, sollte der Arzt die Mutter also noch einmal über die Möglichkeit einer sofortigen Schnittentbindung aufklären, wenn sich die Gesamtsituation (z.B. durch vorzeitigen Blasensprung) und damit die Risikosituation verändert, sprich nunmehr verschiedene Handlungsoptionen (natürliche Geburt oder Kaiserschnittgeburt) mit unterschiedlichen Risiken bestehen. Andernfalls kann sich der Arzt Arzthaftungsansprüchen wegen Aufklärungsfehlern aussetzen.  

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht Philip Christmann
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