Leidet eine Patientin an Diabetes mellitus und fortschreitender Verschlechterung der Sehleistung und unterläßt der Augenarzt eine Augeninnendruckmessung, so haftet er der Patientin wegen eines groben Befunderhebungsfehlers. Sinkt die Sehleistung der Patientin auf beiden Augen in der Folge auf 30 % ab, so haftet der Augenarzt auf ein Schmerzensgeld von EUR 80.000 (vgl. OLG Hamm, Urteil vom 10.5.2016 - 26 U 107/15).

AugeDer Fall:

Die heute 19 Jahre alte Klägerin aus Bielefeld leidet seit dem 10. Lebensjahr an Diabetes mellitus. Von 2007 bis 2009 befand sie sich in der augenärztlichen Behandlung der Beklagten, einer in Bielefeld niedergelassenen Augenärztin. Nach den Sommerferien 2008 suchte die Klägerin die Beklagte mehrfach wegen fortschreitender Verschlechterung ihrer Sehleistung auf, ohne dass die Beklagte bis zur letzten Behandlung im Februar 2009 eine Augeninnendruckmessung veranlasste.

Nach einer notfallmäßigen Aufnahme der Klägerin wegen eines erhöhten Augendrucks diagnostizierte die Augenklinik der städtischen Klinik in Bielefeld im März 2009 einen fortgeschrittenen sog. Grünen Star (dekompensiertes juveniles Glaumkom mit Kammerwinkeldysgenisie). In der Folgezeit musste sich die Klägerin operativen Eingriffen am rechten und linken Auge unterziehen, die jedoch eine hochgradige Verschlechterung ihrer Sehfähigkeit von zuvor noch über 60% auf Werte unterhalb von 30% nicht mehr verhindern konnten. Wegen der versäumten Feststellung des erhöhten Augendrucks hat die Klägerin von der Beklagten Schadensersatz begehrt, u.a. ein Schmerzensgeld von zunächst 45.000 Euro. Ihre Schmerzensgeldvorstellung hat sie nach Bekanntwerden der Möglichkeit, dass sie noch zu Lebzeiten erblinden könne, auf 80.000 Euro erhöht.

Das LG Bielefeld hatte der Klägerin ein Teilschmerzensgeld von 25.000 Euro zugesprochen.

Die Entscheidung:

Das OLG Hamm hat das erstinstanzliche Urteil des Landgerichts abgeändert, der Klägerin weitere 55.000 Euro zugesprochen und damit das Schmerzensgeld auf insgesamt 80.000 Euro erhöht.

Nach Auffassung des Oberlandesgerichts haftet die Beklagte aufgrund eines groben Befunderhebungsfehlers. Bei ihrer letzten Behandlung im Februar 2009 habe sie es versäumt, eine Augeninnendruck- und eine Gesichtsfeldmessung durchzuführen und so der Ursache der sich verschlechternden Sehfähigkeit weiter nachzugehen. Wäre der erhöhte Augeninnendruck bei der Klägerin seinerzeit medikamentös behandelt und die Klägerin als Notfall in eine Augenklinik eingewiesen worden, hätten die später eingetretene Gesichtsfeldeinschränkung und der weitere Verlust der Sehfähigkeit möglicherweise erheblich geringer ausfallen können. Dabei sei der tatsächliche Verlauf der Erkrankung im vorliegenden Fall zu Lasten der Beklagten zu berücksichtigen. Es liege ein grober Befunderhebungsfehler vor, dem die eingetretenen Folgen zuzurechnen seien.

Der Klägerin sei ein Schmerzensgeld von 80.000 Euro zuzusprechen. Durch die verspätete Behandlung sei der noch jungen Klägerin die Möglichkeit genommen worden, ein adäquates Leben zu führen. So sei sie bei sportlichen Aktivitäten stark eingeschränkt und könne keinen Pkw führen. Weiterhin müsse sie einen Beruf ergreifen, der ihrer stark eingeschränkten Sehfähigkeit Rechnung trage. Sie benötige einen für ihre geringe Sehkraft speziell eingerichteten Arbeitsplatz. Zudem bestehe die Gefahr, dass sie zu Lebzeiten erblinde, auch wenn sich deren Zeitpunkt derzeit noch nicht abschätzen lasse. Das zugesprochene Schmerzensgeld sei aufgrund der bestehenden und absehbaren Folgen gerechtfertigt, allein die zeitlich nicht hinreichend sicher absehbare Erblindung habe der Senat noch nicht berücksichtigt.

Quelle: Pressemitteilung des OLG Hamm vom 31.05.2016

Anmerkung:

Das Unterlassen wesentlicher Basis-Diagnostik führt regelmäßig zur Haftung von Ärzten. Um so mehr verwundert es, dass es immer wieder zu diesen Fällen kommt. Auch wenn die Zeit knapp und das Budget möglicherweise erschöpft ist: die grundlegende Diagnostik muss durchgeführt werden, will der Arzt nicht eine (weitreichende) Haftung in Kauf nehmen müssen. 

Auffällig niedrig ist aber das Schmerzensgeld. In Deutschland wird für den Verlust oder die Verringerung der Sehkraft traditionell nur ein im Vergleiuch zur tatsächlichen Beeinträchtigung geringes Schmerzensgeld zugesprochen. Dies kann nur durchbrochen werden, wenn Betroffene konsequent höhere Schmerzensgeldbeträge einklagen und dezidiert zu den nun erlittenen Einschränkungen im täglichen Leben vortragen. 

Zum Thema:

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht Philip Christmann
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